Als kleines Weihnachtsgeschenk 2015 von mir für euch
Kirschroter Sommer
Kapitel 3
Who the fuck is Luca?
(Elyas’ Sicht)
Eine alte Regel besagte: Wenn man seinen Feind flachlegen will, dann muss man ihn kennen. Deshalb liefen meine Studien rund um das hochnäsige Fräulein Winter auf Hochtouren.
Ansehen, lächeln, Komplimente machen oder ihr einen Schritt näher kommen – es war kaum zu glauben, aber bereits eine dieser Kleinigkeiten reichte aus, um Emely aus der Ruhe zu bringen. Da konnten ihr die bissigen Antworten auch nicht weiterhelfen. Manch eine davon war so kratzbürstig, dass ich wie ein getretener und im Stolz verletzter Hund zurückweichen müsste – stattdessen wedelte ich nur noch mehr mit dem Schwanz. Und genau das trieb Emely von der Unruhe in den Wahnsinn.
Soweit mein Ergebnis nach einer Woche Recherchearbeit.
Zu gerne wäre ich auf dem schmalen Kiesweg, der durch den Park führte, direkt neben Emely gelaufen, doch jedes Mal, sobald ich das versuchte, wechselte sie die Seite, sodass Alex mehr oder minder unfreiwillig konsequent die Mitte zwischen uns bildete.
»Seit wann bist du eigentlich ein so großer Fan vom Spazierengehen?«, fragte mich Alex.
Um ehrlich zu sein, genau seit vorhin, als ich hörte, wie Emely zu meiner Schwester sagte, dass das Wetter so schön wäre, dass man glatt einen Spaziergang durch den Park machen sollte.
»Schon immer«, antwortete ich stattdessen, und sah gleich darauf zu Emely. »Findest du nicht auch, dass das Wetter heute wunderschön für einen Spaziergang durch den Park ist?«, fragte ich scheinheilig.
Wenn Blicke töten könnten, dann hätte Emely in diesem Moment wohl ganz Berlin ausgerottet.
Ich war mir nicht sicher, ob meine provozierende Vorgehensweise für das Erreichen meiner Ziele unbedingt die klügste war, aber sie war zweifelsfrei die spaßigste. Süß, dass Emely offenbar dachte, ich würde den Bogen um sie nach unserem Streitgespräch auf der Couch um einiges größer spannen. Und Pech für sie, dass ich genau das Gegenteil tat und ihn immer enger zog. Es gab keinen Menschen auf der Welt, den man schöner ärgern konnte als Emely. Wenn ich auch trotz intensiver Bemühungen noch so gut wie gar nichts über das hochnäsige Fräulein Winter in Erfahrung bringen konnte, zumindest das konnte ich in Stein meißeln.
Der Spaziergang hätte deutlich schlechter für mich ausfallen können, immerhin hatte ich zwei hübsche Frauen als Begleitung – na ja, oder sagten wir besser eineinhalb, so hübsch war Emely schließlich auch wieder nicht. Trotzdem würde ich Spazierengehen, welches, waren wir doch mal ehrlich, eigentlich nur aus langsamem und blöd durch die Gegend guckendem Laufen bestand, auch in Zukunft wohl eher nicht auf die Liste der spannendsten Tätigkeiten schreiben.
Nachdem wir den Park einmal umrundet hatten, kamen wir an dem kleinen Kiosk vorbei, vor dem sich eine Schar von Leuten reihte, als wäre heute der erste und letzte Tag des Jahres, an dem Eis verkauft wurde. Niemand, der seine Bedürfnisse auch nur ansatzweise unter Kontrolle hatte, würde sich das Warten in der Schlange freiwillig antun. Niemand außer …
»Ich will ein Eis! Ich will unbedingt ein Eis!«, rief meine Schwester. »Wollt ihr auch eins?«
»Hast du gesehen, wie lang die Schlange ist?«, gab Emely zurück.
Alex blickte zum Kiosk und dann wieder zu ihrer besten Freundin. »Ja, habe ich. Und? Willst du jetzt eins oder nicht?«
Emely verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Nachdem auch ich verneint hatte, machte sich Alex vorfreudig auf den Weg, und erst verzögert begriff ich, dass drei minus eins zwei ergab und ich ganz plötzlich mit Emely allein war. Als dieselbe Erkenntnis auch über sie hereinbrach, wirkte sie deutlich weniger begeistert als ich.
Da standen wir nun, warteten auf meine Schwester, und guckten abwechselnd zu dem großen Kirschbaum, der auf der Wiese neben uns in seiner vollen rosa Blüte stand.
»Es war wirklich eine gute Idee, euch zu begleiten. Das sollte ich in Zukunft öfter machen«, sagte ich und schlenderte scheinbar beiläufig einen Schritt auf Emely zu.
»Vielleicht solltest du das«, sagte sie. »Vielleicht lässt du mich aber auch einfach in Ruhe. Oder ein anderer Vorschlag: Du stolperst und brichst dir das Genick. Such’s dir aus, für mich ist beides in Ordnung.«
Ich schmunzelte und spürte gleichzeitig, wie mich wieder dieser Reiz überkam. Ich wollte Emely in mein Zimmer entführen, ihr die verdammten Klamotten vom Leib reißen und ihr freches, kirschrotes Mundwerk mit einem drängenden Kuss verschließen. Danach würde ich sie rückwärts auf mein Bett schubsen. Und dann gehörte sie den ganzen Rest der Nacht mir allein.
Ich musste mich räuspern, um diese Fantasie, die mich seit Tagen und ganz besonders nachts vor dem Einschlafen verfolgte, wieder aus dem Kopf zu bekommen – richtig los wurde ich sie jedoch nicht. Und was auch immer ich bisher versucht hatte, sie Wirklichkeit werden zu lassen, es war bereits im Ansatz gescheitert. Obwohl ich Emely deutlich anmerkte, dass sie sehr wohl eine Schwäche für mich besaß, weigerte sie sich, diese Schwäche auch nur eine Sekunde zuzulassen. Allmählich grenzte das an eine Frechheit.
Emely machte für den einen Schritt, den ich gerade zu ihr aufgeschlossen hatte, zwei Schritte zurück und drehte sich nach Alex um. Als sie sah, dass diese immer noch in der Schlange stand, verschränkte sie seufzend die Arme und blickte zu Boden. Mit der Fußspitze und den Kiessteinchen malte sie kleine Kreise auf den Weg. Sie sah so unschuldig und schüchtern dabei aus, dass ich das biestige Weib in ihr einen Moment lang kaum wiedererkannte. Für eine Weile wurde es ruhig zwischen uns.
»Bist du eigentlich öfter hier?«, fragte ich schließlich in die Stille. Die Antwort interessierte mich wirklich. Ich stellte sie mir schon seit dem Moment, als wir den Park betreten hatten. Denn nicht nur, dass Emely all die Jahre näher wohnte als gedacht, wir hatten sogar offenbar und unwissentlich dieselben Anlagen besucht. Ich kannte den Park vom Joggen. Was wäre gewesen, wenn ich ihr dabei mal über den Weg gelaufen wäre? Hätten wir uns gegrüßt? Oder wären wir einfach aneinander vorbeigegangen? Wie hätte ich reagiert? Wie hätte Emely reagiert?
Jetzt in der Gegenwart zog die Schildkröte es jedenfalls vor, überhaupt nicht zu reagieren. Auch drei Minuten später hatte sich daran nichts geändert.
»Hätte ich dich nicht schon öfter mit meiner Schwester über normale Dinge reden gehört«, sagte ich, »könnte ich glatt den Eindruck bekommen, dass du irgendwann deine hübsche Zunge verschluckt haben musst.«
»Elyas«, begann sie, »ich weiß, du kannst dir das in deiner vollkommen selbstüberzeugten Stecher-des-Jahrhunderts-Welt nicht vorstellen, aber du bist mir so egal, dass ich einfach nicht mit dir reden möchte. Verstehst du?«
Und schon hatte ich wieder die Fantasie im Kopf. Nur dass ich Emely dieses Mal nicht zum Schweigen brachte, in dem ich sie küsste, sondern ihr kurzerhand den Mund mit Klebeband zuklebte. Warum hatte sie eine derartige Anti-Einstellung gegen mich?
»Autsch«, sagte ich. »Weißt du, was ich mich gerade frage?«
Sie sah mich an, als würde sie mit dem Schlimmsten rechnen. Und damit hatte sie recht. »Ich frage mich«, fuhr ich fort, »ob dich eigentlich überhaupt schon mal jemand zähmen konnte. Oder werde ich der Erste sein, der das schafft?«
Dieses Mal rottete sie mit ihrem Blick nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland aus. Doch nur kurz. Denn bereits im nächsten Augenblick wandte sie sich von mir ab, ließ mich stehen, drehte sich kein einziges Mal mehr zu mir um und leistete Alex in der Schlange Gesellschaft.
Sie stand auf mich. Und zwar so was von. Das Problem war aber: Mindestens genauso sehr stand sie sich selbst im Weg. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und lehnte mich seitlich gegen den dicken Stamm des Kirschbaums, von wo aus ich die beiden gut im Blick hatte. Anstatt froh zu sein, dass ich mich dazu herabließ, ihr meine Aufmerksamkeit zu schenken, hatte sie mich einfach stehenlassen.
Allmählich bekam ich die Befürchtung, dass die Nuss härter war und das Knacken länger dauern würde als gedacht. Emely gab mir ja noch nicht mal die stinknormalen Antworten, die sie selbst einem dahergelaufenen Fremden auf der Straße geben würde. Genau genommen, gab sie mir eigentlich überhaupt nichts. Wie sollte ich ihr denn da die Klamotten vom Leib reißen und sie rückwärts auf mein Bett schubsen? Würde ich das zum jetzigen Zeitpunkt versuchen, würde es vermutlich nicht mit Sex, sondern mit einer Strafanzeige enden. Emely war noch nicht so weit. Aber wann wäre sie das? Und was wäre dafür nötig?
Um alles zu beschleunigen, brauchte ich über sie definitiv mehr Informationen als jene spärlichen, die ich bisher zusammengetragen hatte. Ich brauchte grundlegendes Wissen über sie, ganz plumpe und rudimentäre Sachen wie Hobbys, Lieblingsmusik, Lieblingsbücher, Lieblingsfarbe, Lieblingsfilm und so weiter. Nur so konnte ich mich besser auf Emely einstellen – und Emely wiederum besser auf mich einstellen. Ich musste herausfinden, wie sie tickte.
Eigentlich hatte ich mit Alex die perfekte Expertin für all diese Antworten direkt vor der Nase. Sie war eine Art wandelndes Emely-Lexikon, gefüllt mit all dem kostbaren Wissen, das ich so gerne besäße. Anstatt mir zu geben, wonach ich begehrte, stellte sie mir aber jedes Mal nur saudämliche Gegenfragen. Wieso möchtest du das wissen? Interessierst du dich auf einmal für Emely? Wollt ihr doch Freunde werden? Findest du sie jetzt sympathisch? Tut es dir leid, dass du dich ihr gegenüber neulich so blöd verhalten hast?
Mit anderen Worten: Alex war raus. Aber so was von.
Wer oder wie ich mir stattdessen selbst weiterhelfen könnte, wusste ich allerdings auch nicht. Hätte ich in diesem Moment einen Wunsch frei gehabt, dann hätte ich mir einen Spion herbeigesehnt, der alles über Emely für mich in Erfahrung brachte, was ich wissen musste, und der seine Erkenntnisse umgehend und unverfälscht an mich weiterleitete. So jemand wäre unbezahlbar.
Und wohl deswegen auch nicht zu finden. Mit einem Seufzen löste ich den Blick vom Kiosk und ließ meine Augen stattdessen über die Wege, Wiesen und besetzten Parkbänke schweifen. Es wurde immer voller, als würde sich auch der Letzte von den frühsommerlichen Temperaturen aus der Wohnung locken lassen. Ganz besonders häufig waren Pärchen vertreten, die händchenhaltend durch die Welt schlenderten, als gehörte sie ihnen allein. Wie verliebt sie aussahen … Zumindest noch. Denn früher oder später würde der eine den anderen nicht mehr zu schätzen wissen und ihn aufs Tiefste und ohne Rücksicht auf Verluste verletzen. Oder aber sie blieben zusammen und langweilten sich bis an ihr Lebensende zu Tode. Und das nur wegen hormonellem Bullshit, der einen in die Irre führte. Alles nur Schein, alles nur Lug und Betrug.
Mein Blick wanderte weiter, ich ließ die Pärchen Pärchen sein und hielt stattdessen nach Weibchens Ausschau, die noch verzweifelt nach ihrem Helden suchten und gar nicht ahnten, wie nahe sie ihm waren. Zumindest einem von kurzer Dauer, dafür aber umso heldenhafter. Ein rothaariges und von der Natur gesegnetes Exemplar stach mir dabei besonders ins Auge. Und wer weiß, vielleicht wäre ich ihr auch noch aufgefallen, wären nicht meine Schwester und ihr sturer und mich ignorierender Anhang zurückgekehrt, mit denen ich schließlich den Weg nach Hause antrat.
Am Abend desselben Tages, ein paar Stunden später, traf ich mich mit Freunden. Zu fünft saßen wir im Garten von Sophies Eltern, die wieder einmal verreist waren und das großräumige Haus ihrer Tochter überlassen hatten. Eigentlich waren sie häufiger unterwegs als zuhause, und ich fragte mich, wie sehr Sophie daran gewöhnt sein musste, wenn sie oftmals gar nicht beantworten konnte, wo ihre Eltern sich überhaupt gerade befanden. Zusammen mit Andy, der einer meiner zwei besten Kumpels war, bewohnte sie die Dachwohnung des Hauses. Bis vor einem Monat war er noch mein Mitbewohner gewesen, und intern liefen bereits die Wetten, wie lange es dauerte, bis er es wieder wurde, weil Sophie ihn vor die Tür setzte. Ich hatte auf eine Woche getippt und war somit schon raus. Spätestens, wenn er zum ersten Mal die Toilettentür offen ließ – was er eigentlich immer machte – hätte ich schwören können, dass er mit seinen Koffern vor meiner – und jetzt auch Alex’ – Wohnung stehen würde.
Aber damit hatte ich mich getäuscht. Entweder Andy gab sich verdammt viel Mühe, oder aber Sophie war noch taffer, als wir gedacht hatten. Ihr Äußeres mochte an die klassische Blondine erinnern, aber mit ihrem Wesen hatte diese Optik nur sehr wenig gemein, das bewies sie immer wieder. Außerdem hatte sie eine deutliche Schwäche für muskulöse, aber doch leicht propere Männer wie Andy, die angsteinflößend und gutmütig zugleich waren. Und die – nicht zu vergessen – absolut keinen Sinn für Humor hatten.
»Was ist denn jetzt mit deiner Schwester?«, fragte mich genau jener. Er saß mir gegenüber und stocherte mit einer Eisenstange in den glühenden Kohlen auf dem Grill. »Wo ist sie? Warum stellst du sie uns nicht vor? So langsam habe ich den Eindruck, es gibt sie gar nicht. Sei ehrlich, Schwarz: Hast du sie nur erfunden? War sie nur deine imaginäre Freundin in deiner Kindheit, weil du ein verwöhntes Einzelkind warst?«
Über Andys Witze war es manchmal sehr leicht, nicht lachen zu müssen. Ich verdrehte die Augen und nippte von der Bierflasche in meiner Hand.
»Natürlich will ich sie euch vorstellen. Sie ist nur dauernd unterwegs. Oder ich vergesse, sie rechtzeitig zu fragen.« Genau wie heute. Nach dem Spazierengehen, als ich in meinem Zimmer war und am Laptop saß, fiel mir die Verabredung mit Sophie, Andy und Sebastian ein. Doch als ich Alex dazu einladen wollte, war sie in der Wohnung nicht zu finden. Es klebte nur ein Post-It am Kühlschrank: Bin mit Emely noch was trinken gegangen, komme erst spät nach Hause!
»Wie kann sie denn dauernd unterwegs sein?«, fragte Andy. »Sie ist doch neu in der Stadt und kennt niemanden. Also vorausgesetzt, dass Alex überhaupt existiert …«
»Ihre beste Freundin wohnt hier«, antwortete ich.
»Soso«, sagte Andy und malte Gänsefüßchen in die Luft, »eine beste Freundin hat sie also auch noch.«
Sophie, die neben ihm saß, schmunzelte und patschte ihn kurz darauf gegen den Arm. »Warum stocherst du eigentlich in der Kohle rum?«, fragte sie ihn.
»Ich mache die Kohlen aus. Das muss so sein.«
»Das muss überhaupt nicht so sein. Die gehen von allein aus.« Sophie schüttelte die Decke, die sie über den Beinen hängen hatte. »Das Einzige, was du Pfosten machst, ist überall die Asche zu verteilen. Gib das Ding her.« Andy versuchte, die Eisenstange in seinem Besitz zu behalten, doch er hatte keine Chance. Sophie entriss sie ihm und warf sie in den Rasen. Unter Andys beleidigtem Blick, setzte sie sich entschlossen zurück auf ihren Stuhl – und wieder einmal hatten die 60 Kilo die 100 Kilo problemlos geschlagen. Keine Ahnung, wie Frauen das machten. Ein Mann hätte sich wahrscheinlich nie getraut, jemandem wie Andy die Eisenstange wegzunehmen. Eine kleine, schlanke Person wie Sophie tat es einfach und kam sogar noch damit durch.
»Also wenn du so an diese Alex denkst«, kam Andy wieder auf mich zu sprechen. »Hörst du dann auch ihre Stimme? Spricht sie zu dir?« Erneut brach Gelächter aus. Und obwohl ich die Witze auf meine Kosten mit Fassung trug, kam mir Sebastian, der zu meiner Rechten saß und den man wohl als meinen besten Freund bezeichnen konnte, zur Hilfe.
»Es gibt sie tatsächlich«, sagte er. »Ich habe sie schon zweimal gesehen und sogar Hallo zu ihr gesagt. Alex ist ein kleiner Lockenkopf. Sie sieht Elyas ähnlich, ist aber viel putziger als er.«
Nun war Andy gänzlich verstört. Allerdings aus einem anderen Grund, als ich dachte. »Sie ist noch putziger als Elyas?«, fragte er schockiert. »Das kann ich mir nicht vorstellen! Putziger geht doch gar nicht!«
Ich warf den Bierdeckel in seine Richtung und ließ die Schmach mit einem Lächeln über mich ergehen. Seitdem ich Andy vor ein paar Jahren kennengelernt hatte, fand er einen perfiden Spaß darin, mich – noch mehr als alle anderen – auf den Arm zu nehmen. Ich vermutete, er wollte herausfinden, ob er es doch eines Tages schaffen würde, mich mit irgendetwas richtig ärgern zu können. Was er nicht ahnte, war, dass mir dieses Spielchen mindestens genauso viel Spaß machte wie ihm, denn ich wusste: Da konnte er lange warten.
Sebastian war dagegen ein ganz anderer Schlag als er. Mit seinen dunkelblonden Haaren, die immer so aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett aufgestanden, und seinem Sunny-Surfer-Gesicht (er hasste es, wenn ich das sagte), war er gemeinhin das, was die Frauenwelt als süß bezeichnete. Charakterlich war er den meisten Frauen wiederum zu nett und ungefährlich. Zumindest anfangs. Denn lernte man ihn näher kennen, kam man nicht umhin, von seiner ruhigen, entspannten und offenen Art fasziniert zu sein. Seitdem er Psychologie studierte, war er sogar noch gelassener geworden. Es gab auf der ganzen Welt kein einziges Thema, über das man nicht mit ihm hätte reden können und er war von Grund auf ehrlich und vertrauenswürdig. Sebastian war der angenehmste Mensch, den ich je kennengelernt hatte.
»Ich will deine Schwester auch endlich sehen«, sagte Sophie.
»Wirst du«, versprach ich. »Sie ist doch erst wenige Wochen hier. Wir müssen einfach nur mal einen Termin ausmachen.«
»Na gut«, sagte sie und war für den Moment erst mal zufrieden. Oft waren Abende im Beisein von Pärchen ätzend, aber Andy und Sophie bildeten definitiv die Ausnahme. Trotz ihrer Beziehung waren sie normale Menschen geblieben und verhielten sich auch innerhalb einer Gruppe so.
Weil es allmählich dunkel wurde, holte Sophie ein paar Kerzen. Der komische, süßliche Geruch erinnerte mich an das Vanille-Exemplar, das es hartnäckig auf meinen Schlüsselchenplatz auf der Kommode abgesehen hatte und das ich nur mit noch größerer Hartnäckigkeit von dort vertreiben konnte. Duftkerzen – ich würde es wohl nie verstehen. Aber wenn ich anhand derer sah, wie viel Wert Frauen auf gute Gerüche legten, war das ein weiteres erklärendes Puzzleteil, warum Frauen so sehr auf mich standen: Ich roch nämlich verdammt gut. Emely müsste einfach mal aufhören so zickig zu sein, dann würde sie mir auch nah genug kommen, um das feststellen zu können.
»Gibt’s eigentlich etwas Neues von Jessica?«, fragte Andy in die Runde.
»Elyas und ich waren vorhin bei ihr, aber sie wollte nicht mitkommen«, antwortete Sebastian. »Yvonne schaut später noch bei ihr vorbei. Sie macht jedenfalls immer noch den Eindruck, als ginge es weiter aufwärts.«
Mit einem Mal wurde Sophie ganz still, wie immer, wenn das Thema auf Jessica fiel. Immerhin war Domenic ihr Bruder. Genau die Person, die Jessica lange Zeit Hoffnungen machte, sie benutzte, wie es ihm beliebte, und sie anschließend immer wieder wegwarf. Ich mochte Sophie, aber Domenic hasste ich wie die Pest. Nichts, was seinen Mund verließ, trug auch nur einen Funken Wahrheit in sich. Er gab sich nett und freundlich, doch eigentlich interessierte ihn auf der Welt nur eine einzige Sache: sein eigener Vorteil.
»Bei mir hat sie sich schon seit Wochen nicht mehr gemeldet«, sagte Andy. »Wahrscheinlich liegt das an Sophie, aber sie kann doch auch nichts dafür.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Niemand kann etwas dafür.«
Da war ich absolut anderer Meinung. »Doch, das dumme Arschloch kann etwas dafür.« Damit meinte ich niemand anderen als Domenic selbst. Ob sich Jessica nun ernsthaft das Leben nehmen wollte oder ob sich hinter ihrer übermäßigen Einnahme von Schmerztabletten lediglich der Wunsch nach Hilfe verbarg – es spielte keine Rolle, beides war gleichermaßen ernst zu nehmen, und ohne Domenic wäre es wahrscheinlich nie so weit gekommen. Natürlich war mir bewusst, dass Jessica noch andere Probleme hatte, wieso sollte sie sich sonst über einen so langen Zeitraum von einem Typen wie ihn erniedrigen lassen. Aber das gab Domenic noch lange nicht das Recht, sich wie ein Arschloch zu verhalten.
Je länger ich über ihn nachdachte, desto mehr merkte ich, wie sehr mir dieser Mistkerl auf den Sack ging. Das schien auch Sebastian nicht zu entgehen, denn geschickt lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung und drückte mir eine neue Flasche Bier in die Hand.
Sophie lehnte sich im Stuhl zurück, überschlug die Beine unter der Decke und musterte mich mit diesem neugierigen Blick, den sie schon so oft in meine Richtung geworfen hatte. »Du erzählst gar nichts von Frauen. Gibt es irgendetwas Neues?«
Gibt es etwas Neues, war nichts anders als ein Pseudonym für: Bist du inzwischen reifer geworden? Hast du mit deinen Bettgeschichten aufgehört? Ist dir endlich mal eine Frau dauerhaft ins Auge gefallen? Irgendwie hatte Sophie das Bedürfnis, mich in einer Beziehung sehen zu wollen – so waren Frauen eben. Sie konnten einfach nicht dabei zusehen, wenn Männer Spaß hatten.
Einmal hatte mir Sophie sogar eine hübsche Arbeitskollegin von sich vorgestellt. Seitdem ich diese flachgelegt hatte, stellte sie mir allerdings keine hübschen Kolleginnen mehr vor, was ich sehr bedauerte.
»Du weißt doch, Sophie, solange du nichts von mir über dieses Thema hörst, heißt das, es läuft. Sollte ich anfangen darüber zu reden, dann weißt du, es gibt Probleme.«
Nun war sie es, die einen Bierdeckel in meine Richtung warf.
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Es war genau drei Tage später, als mich ein Geistesblitz überkam. Und Geistesblitz war wortwörtlich zu nehmen, denn der Gedanke schlug wie ein Stromschlag ein und fuhr durch meinen ganzen Körper. Ich hatte eine Lösung gefunden. Sie war die ganze Zeit auf der Hand gelegen, und trotzdem war ich nicht auf sie gekommen. Von Energie gepackt sprang ich vom Sofa auf und kannte nur ein einziges Ziel: Die schwarze Lederhandtasche meiner Schwester. Vor zehn Minuten war Alex vom Sport nach Hause gekommen, hatte ihre Tasche über den Stuhl im Esszimmer gehangen und war auf direktem Weg zum Duschen im Bad verschwunden. Normalerweise sah man sie nicht allzu schnell wieder, wenn sie erst mal einen Fuß ins Bad gesetzt hatte, dennoch schielte ich ununterbrochen in die Richtung der verschlossenen Tür und bangte jede Sekunde, dass die Türklinke nach unten gedrückt wurde.
Ich wühlte mich in der Tasche durch Lippenstift, Handspiegel, Mascara, Make-Up, noch mal Lippenstift, Parfum, Taschentücher, OBs, Desinfektionstücher für Toilettensitze, bis ich schließlich in den Händen hielt, wonach ich gesucht hatte. Alex’ Handy. Doch egal wie oft ich auf dem Display herumwischte, ohne die Eingabe eines vierstelligen Codes ließ mich das dumme Ding nicht ins Menü und schon gar nicht in das eMail-Programm. Nachdem ich ein paar verschiedene Nummernkombinationen vergeblich ausprobiert hatte, steckte ich das Handy frustriert zurück in die Tasche. Doch lange sollte mein Frust nicht überdauern. Die Badtür im Auge behaltend, schlich ich mich in Alex’ Zimmer und schnappte mir den Laptop, den sie auf dem Bett liegen gelassen hatte.
Exakt zwei Minuten später verließ ich das Zimmer mit einem Zettel in der Hand und hatte alles, was ich brauchte. Sogar noch mehr, könnte man sagen, denn ich hätte nicht gedacht, dass es mir Emely mit ihren eMail-Adressen so einfach machte. Neben ihrer privaten, die für einen Fremden wohl nicht allzu leicht herauszufinden gewesen wäre und mich somit in Erklärungsnot gebracht hätte, nutze sie eine von dem Universitätseigenen-Server. Von Alex, die sich in derselben Hochschule wie Emely eingeschrieben hatte, wusste ich, dass zu Beginn des ersten Semesters jedem Studenten für Rundbriefe eine zugewiesen wurde. Und außerdem wusste ich, dass diese Adressen in einem öffentlichen Register eingetragen und somit für alle zugänglich waren. Wie viel einfacher könnte es noch für mich laufen? So ein Strahlen hatte ich sonst nur nach einem Orgasmus auf dem Gesicht. Ungeduldig wartete ich, bis Alex fertig war.
Nachdem sie zwanzig Minuten später endlich aus dem Badezimmer kam und dabei eine penetrante Parfumwolke hinter sich her zog, die sich schneller als Giftgas (aber genauso wirkungsvoll) in der ganzen Wohnung verteilte, nahm sie sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank und lehnte sich an den Küchentresen. Nein, wobei, das war nicht ganz richtig, denn genauer gesagt nahm sie sich nicht einen, sondern meinen Joghurt aus dem Kühlschrank. Alex war der Meinung, dass es Meins und Deins bei Geschwistern nicht geben sollte. Zumindest war sie dieser Meinung, wenn es darum ging, meine Sachen wegzufuttern.
»Na? Schmeckt mein Joghurt?«, fragte ich, als ich zu ihr in die Küche gelaufen kam, mir einen Löffel aus der Schublade holte und ebenfalls mit in den Joghurt tauchte, um ihn wenigstens einmal probiert zu haben.
»Ach, war das deiner?«, antwortete sie gespielt ahnungslos. »Das tut mir leid. Das wusste ich nicht.«
»Mach dir nichts draus.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es kann doch jedem von uns passieren, dass er ein feuerrotes Post-It übersieht, das mitten auf dem Deckel klebt und auf dem in fetten Buchstaben Elyas steht.«
Sie grinste wie nur meine kleine Schwester grinsen konnte. Manchmal hatte ich den Eindruck, sie wusste ganz genau, was sie tun musste, damit ihr niemand lange böse sein konnte. Doch heute wollte ich ihr auch gar nicht böse sein, immerhin hatte ich ihr vorhin selbst etwas geklaut.
»Was machst du jetzt?«, fragte ich sie, darauf hoffend, dass ich die Wohnung heute noch irgendwann für mich allein hätte. Und ich sollte Glück haben.
»Ich geh gleich noch zu Emely und helfe ihr beim Lernen. Voll nervig, sie macht seit zwei Tagen nichts anderes.«
Die Schildkröte war also eine Streberin. Es verwunderte mich nicht, passte es doch zu ihrer arroganten Art. Wie abfällig sie wohl über mich gedacht haben musste, als mein Vater ausgerechnet in ihrem Beisein meine dürftige Studiumsmoral erwähnt hatte? Besser, ich würde es gar nicht wissen.
»Sag mal, Schwesterherz, was würdest du davon halten, wenn wir demnächst mal was mit meinen Freunden machen?«
»Mit deinen Freunden?« Sie kratzte das letzte bisschen Joghurt mit dem Löffel zusammen, steckte ihn in den Mund und stellte den Becher neben die Spüle.
Ich nickte.
»Wird Sebastian auch dabei sein?«
»Klar. Warum sollte er nicht?«
Allmählich häuften sich ihre Fragen nach meinem besten Kumpel und auch ihr glasiger Blick, sobald ich Besuch von ihm bekam, war mir nicht entgangen. Das war typisch für meine Schwester, so war sie eben. Ein Mann musste nur irgendetwas an sich haben, das sie süß fand, und schon war sie verknallt. Manchmal drängte sich mir der Eindruck auf, dass sie Süßfinden mit Verlieben verwechselte. Aber wie auch immer – es war zwecklos, eine Diskussion mit ihr darüber anzufangen, das hatte ich bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Die Vorstellung von meiner Schwester und meinem besten Freund als romantisches Pärchen gefiel mir nicht besonders, aber glücklicherweise brauchte ich mir darüber keine Gedanken zu machen, denn die beiden passten überhaupt nicht zusammen. Das würde Alex schon noch merken.
»War nur eine Frage. Natürlich können wir das machen. Lass uns einfach sehen, wann es allen passt. Okay?«, sagte sie.
So cool, wie sie versuchte zu wirken, wirkte sie ganz und gar nicht. Nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihrer fahrigen Gestik erkannte ich die leichte Aufregung, die sie plötzlich überkam. Aber als Gentleman, der ich nun mal war, kommentierte ich das nicht, und verabschiedete sie kurze Zeit später, als sie die Wohnung verließ und sich auf dem Weg zu Emely machte. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, gab es für mich nur noch ein einziges Ziel. Mein Laptop war schnell aus der Umhängetasche geholt und noch schneller war mein Schreibtisch freigeräumt, auf dem sich nur ein einziger Ordner mit Uni-Unterlagen befand.
Mein erster Auftrag lautete: Einen Namen finden, den Frauen attraktiv und sympathisch fanden. Oft wusste ich nicht, wozu Internetforen tatsächlich gut waren, aber heute konnten sie mir zum ersten Mal behilflich sein. Es gab wirklich Frauen, die im Internet seitenweise darüber schrieben, welche Männernamen genau meine gesuchten Kriterien erfüllten. Gleich beim ersten Männernamen, der häufiger als zweimal genannt wurde, schlug ich zu. Was ich nicht persönlich von Emely in Erfahrung bringen könnte, würde zukünftig Luca für mich in Erfahrung bringen.
Meine Idee war grandios. Ach was, sie war perfekt und so gut, dass sie nur von mir sein konnte. Erst dachte ich daran, Emely unter einem Pseudonym SMS-Nachrichten zu schicken, aber dafür hätte ich ein zweites Handy gebraucht, denn ein Abgleich mit Alex’ Telefonbuch hätte ausgereicht, um mich sofort als Absender zu entlarven. Erst in zweiter Instanz stieß ich auf die viel bessere und sicherere Variante: Ich würde Emelys eMail-Freund werden. Nur dass sie nie erfahren würde, dass ich es war.
Der Name war gefunden, nun fehlte nur noch eine eMail-Adresse für mein Alter Ego. Im Handumdrehen hatte ich eine solche bei einem weitverbreiteten eMail-Anbieter erstellt und konnte loslegen. Nach zwei anfänglichen Fehlversuchen, die ich schneller wieder löschte, als ich sie geschrieben hatte, überließ ich einfach meinem Charme das Sprechen.
Hallo Emely,
ich sehe dich jetzt schon seit einer Weile, aber kann leider nicht den Mut aufbringen, dich anzusprechen. Deswegen kam ich auf die – zugegeben, ziemlich armselige – Idee, dir eine E-Mail zu schreiben.
Ich möchte dir einfach nur sagen, dass ich dich gerne kennenlernen würde.
Wahrscheinlich bekommst du jeden Tag hunderte solcher E-Mails, oder noch schlimmer, du hältst mich für verrückt. Dennoch sitze ich hier und hoffe, von dir eine Antwort zu erhalten.
Liebe Grüße
Luca
Nachdem ich den Text noch einmal gelesen hatte, drückte ich auf Senden und lehnte mich im Stuhl zurück. Wäre ich Raucher, ich hätte mir wohl eine Zigarette angezündet. Aber mein Lächeln sprach eigentlich Bände genug. Wir sehen uns auf meinem Bett, Miezekatze.
© Carina Bartsch
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Und da ist das Kapitel schon wieder vorbei … Hat es euch gefallen?
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Vielen lieben Dank an Caro (Caroline Richter) und Paulina fürs Gegenlesen
Und wer nichts verpassen will, (z.B. wenn ich endlich mit meinem neuen Buch fertig bin), der kann absofort gerne meinen Newsletter abonnieren
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