Als kleines Weihnachtsgeschenk 2014 von mir für euch
Kirschroter Sommer
Kapitel 2
Hochgeistige Ergüsse
(Elyas’ Sicht)
Auf das Seminar über Medizinische Soziologie folgte die Vorlesung über Molekularbiologie und danach eigentlich der Präparierkurs innerhalb der Makroskopischen Anatomie. Anstatt mich in Richtung Pathologie zu bewegen, um Letzteren beizuwohnen, schlenderte ich mit dem Laptop unterm Arm über den gepflasterten Vorhof der Fakultät zu den Parkplätzen. Im Vergleich zu der trockenen Theorie in Lehrbüchern war der Lerneffekt beim Sezieren und Präparieren eines richtigen Leichnams weitaus größer, aber wie ich es drehte und wendete, lebende Menschen waren und blieben mir um Einiges lieber. Und während sich meine Mitstudenten über jene unter sich lustig machten, die Berührungsängste mit dem Tod besaßen, sich unwohl fühlten oder gar innerhalb der kahl gefliesten und sterilen Räumlichkeiten übergaben, wunderte ich mich stattdessen nur über jene, die all das nicht taten und ohne mit der Wimper zu zucken zum Skalpell griffen.
Die Luft hier draußen trug den Geruch von warmer Erde und die Sonne sorgte für angenehme einundzwanzig Grad – nein, heute war definitiv nicht der richtige Tag, um ihn mit Formaldehyd und der Anwesenheit von Tod zu verbringen.
Ich näherte mich den schattenspendenden Birken, unter deren herunterhängenden Ästen die Frau meiner Träume auf mich wartete. Allein ihr Anblick sorgte dafür, dass mein gesamter Körper von Endorphinen geflutet wurde. Sie war perfekt, an Schönheit nicht zu überbieten, und wenn sie es ebenso wollte, dann würden sich unsere Wege erst am Ende unseres Lebens wieder trennen. Sie war die Frau, mit der ich alt werden wollte.
Sie war meine schwarze Prinzessin.
Sie war mein 1967er Mustang Shelby GT.
Ich fuhr mit der Hand über ihr angenehm kühles Dach, öffnete die Tür und sank in den ledernen Sitz. Aus dem Handschuhfach holte ich meine Sonnenbrille hervor, legte den Laptop auf den Beifahrersitz und schaltete Musik an. Als ich einhändig rückwärts ausparkte, wummerten die ersten Bässe von Damian Marleys »Welcome to Jamrock« durch den Wagen und verschmolzen mit dem tiefen Grölen des Motors. Meine Prinzessin klang, als hätte sie ein paar Zigarren zu viel geraucht, und ließ mich ihre volle Kraft und Energie bis ins letzte Ende meiner Haarspitzen spüren. Alles vibrierte. Und ich seufzte, weil sie so sexy war. Die eine Hand am Lenkrad, die andere auf dem Schaltknüppel, lehnte ich mich entspannt im Sitz zurück, und lenkte den Wagen erst vom Parkplatz und dann durch Berlin. Ich fuhr ein paar Stadtteile ab, von Berlin Mitte nach Friedrichshain, von dort zum Prenzlauer und wieder zurück – einfach so, weil ich Bock darauf hatte und es sich gut anfühlte, meine schwarze Prinzessin auszuführen.
Als ich vor einem typischen Berliner Altgebäude mit hellgelbem Anstrich parkte, in dem sich meine Dachwohnung befand, war ich die Ruhe in Person und meine geistige Verfassung an Seligkeit nicht zu überbieten. Im fünften Stock angekommen öffnete ich die Wohnungstür und erwartete automatisch den vertrauten Geruch einer Junggesellenbude, wie er mich auch die letzten zwei Jahre in meiner und Andys Zweier-WG empfangen hatte. Seit einer Woche herrschte hier jedoch ein neuer Wind, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Wie gewohnt warf ich meine Schlüssel auf die Kommode neben der Tür, nur das ertönte Aufprallgeräusch war alles andere als gewohnt. Statt einem dumpfen Klack machte es klirr. Irritiert wandte ich mich um. An genau jener Stelle, die seit Jahren für meine Schlüssel reserviert war, sodass der Platz eigentlich sein eigenes Nummernschild verdient hätte, stand ein Gefäß aus Milchglas. Vanille-Duftkerze stand in verschnörkelten Buchstaben darauf. Ich hob es an, roch daran, und stellte fest, dass es auch genauso stank. »Alex!«, rief ich, woraufhin sie den Kopf aus dem Badezimmer im Flur streckte. »Ja?«
»Was macht dieses … Ding … hier?«
Weil sie aus der Entfernung den Gegenstand in meiner Hand nicht identifizieren konnte, kam sie, die nassen Haare in ein Handtuch wickelnd und statt einem Oberteil nur einen BH tragend, zu mir nach vorne gelaufen.
»Ach das«, sagte sie. »Das ist eine Vanille-Duftkerze.«
Taten das Frauen eigentlich mit Absicht? Auf Fragen antworten, die man ihnen nie gestellt hatte?
»Ich sehe, was das ist. Aber warum steht das auf meinem Schlüsselplatz?«
»Weil es da hübsch aussieht. Du kannst deine Schlüssel doch auch woanders hinlegen.«
»Ich lege die Schlüssel auf die Kommode, damit ich sie beim Reinkommen gleich ablegen kann und sie beim Gehen nicht vergesse. Seit meinem Einzug in diese Wohnung tue ich das. Und ich würde das auch in Zukunft gerne so beibehalten.«
Alex legte den Kopf leicht schräg und musterte mich auf eine Weise, dass ich nicht umhin kam, mich unter ihren Blicken wie ein Hundewelpe in einem braunen Pappkarton zu fühlen. Nahm sie mich nicht ernst?
»Elyas, Bruderherz, ich weiß, dass die Situation neu für dich ist, mit einer Frau zusammenzuwohnen.« Sie löste das Handtuch vom Kopf und frottierte sich vornübergebeugt die Haare. »Aber du brauchst dich wirklich nicht von einer Duftkerze in deiner Männlichkeit bedroht fühlen.«
»Bedroht? Darum geht es doch gar nicht, es geht um meinen Schlüsselpl–«
Sie fiel mir ins Wort. »Du brauchst mir nichts erklären. Ich weiß bestens Bescheid.«
»Soso. Und worüber bitte?«
Sie atmete laut aus und richtete sich auf. Nasse Locken fielen ihr ins Gesicht, die sie durch pusten wieder von dort verscheuchen wollte. »Dass Männer immer in einer Phase stecken. Das fängt im Säuglingsalter mit der Oralen Phase an und hört nicht, wie Freud dachte, bei dreizehn Jahren mit der Genitalen Phase auf – da hat sich der Gute getäuscht. Es geht nämlich immer weiter. Möchtest du wissen, in welcher Phase du gerade steckst?«
»Nein?«
»Also. Die Antwort ist ganz simpel. Du bist in der Freiheitsverlust-Phase.«
So langsam wurde es immer abstruser. »Freiheitsverlust-Phase?«
»Genau. Du hast Angst um deine Freiheit.«
»Ahja …«, sagte ich und zog die Stirn kraus. »Und du bist dir sicher, dass nicht stattdessen du in einer Phase steckst? Zum Beispiel in der Ich-nehme-alles-in-Beschlag-Phase?«
Sie dachte kurz darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Ausgeschlossen.«
Ehe ich dazu kam, meine berechtigten Zweifel an dieser Aussage zu äußern, fuhr sie fort: »Aber da ich nicht möchte, dass du allzu sehr mit deinen Ängsten konfrontierst wirst, bin ich bereit, einen Kompromiss einzugehen!«
»Wie überaus nachsichtig von dir …«
»Ja, oder?« Sie grinste und schob die Duftkerze fünf Zentimeter nach links. »Siehst du?«, fragte sie. »Jetzt haben sowohl die böse Kerze als auch dein Schlüsselchen Platz.«
Mein Schlüssel-chen. Mehr als die Augenbraue anzuheben schaffte ich nicht mehr, da machte Alex auch schon kehrt und steuerte zurück ins Bad. Kaum war sie außer Sicht, kam ihr Kopf erneut zum Vorschein. »Ach, übrigens!«, rief sie, während sie sich mit der Hand am Türrahmen festhielt. »Emely kommt später noch vorbei!« Ihr Kopf verschwand und kurz darauf ertönte ihr Fön, der jedes Mal die Frage bei mir aufwarf, ob gerade ein Düsenjet mein Badezimmer als Landebahn missbrauchte.
Emely. Meine Schultern gingen nach unten.
Montags:
Heute treffe ich mich mit Emely!
Dienstags:
Heute kommt Emely zum Frühstück!
Mittwochs:
Ich gehe mit Emely einkaufen, willst du mitkommen?
Donnerstags:
Hey, wollte mir heute Abend mit Emely einen Film bei uns anschauen. Ist das in Ordnung für dich?
Freitags:
Habe ich dir eigentlich schon erzählt, was Emely heute wieder Witziges gesagt hat?
So langsam ging mir dieser Name ernsthaft auf die Nerven. Dass ich der besten Freundin meiner Schwester nicht gänzlich aus dem Weg gehen könnte, war mir klar gewesen, aber schon nach einer Woche hatte es ein Ausmaß erreicht, das all meine Befürchtungen übertraf. Fehlte nur noch, dass sie eines Tages mit einem dritten Bett hier klingelte und bei uns einzog.
Eigentlich war sie mir ja egal. Von mir aus könnte sie von morgens bis abends hier ein und aus spazieren, aber musste sie das auf eine derart arrogante Weise tun? Immerhin war das meine Wohnung und sie nur ein geduldeter Gast. Allein die Erwähnung ihres Namens sorgte dafür, dass ich sie bereits jetzt mit erhobener Nase durch mein Wohnzimmer laufen sah – und das ärgerte mich. Dabei war »laufen« noch nicht mal die treffendste Bezeichnung, besser würde »stolpern« passen, denn als geschickt im Umgang mit ihren Füßen hatte sich das hochnäsige Fräulein Winter wahrlich nicht erwiesen. Der Treppensturz bei Alex’ Einzug war nur der Anfang einer Odyssee gewesen. Eine Schildkröte mit zeitweilig auftretender Behinderung – so könnte man diese Frau nennen.
Und immer diese spitzfindigen Antworten aus ihrem frechen Mund … Ich fragte mich, wem sie mit ihrem vermeintlich selbstbewussten und schlagfertigen Auftreten etwas vormachen wollte? Ein Blick in ihre Augen genügte mir und ich sah, welch kleines Mädchen in Wahrheit hinter der großen Klappe wohnte. Sie war die Unsicherheit in Person. Wie konnte man unsympathisch und gleichzeitig so hilflos wirken?
Aus Protest schob ich die Duftkerze noch zehn weitere Zentimeter nach links, legte meine Schlüsselchen an den angestammten Platz und ließ mir von dem Automaten in der Küche eine heiße Tasse Kaffee zubereiten. Dass Alex wieder einmal die Milchschaumdüse nicht gereinigt hatte, gehörte fast schon zum Standard, und da jegliche Versuche ihr das anzugewöhnen fehlgeschlagen waren, sparte ich mir heute die Diskussion und reinigte sie selbst. Mit meinem warmen Kaffeebecher in der Hand lehnte ich mich gegen den Tresen, aber irgendwie wollte mir mein Lieblingsgetränk heute nicht schmecken wie sonst.
Als Alex mit frisch geföhnter, lockiger Mähne wieder den Wohnraum betrat, zog sie sich eine dünne Jacke über und packte ihre Handtasche. Wie so oft wunderte ich mich, was da alles reinpasste und wozu in aller Welt man das ganze Zeug unterwegs brauchte. »Emely hat mir gerade geschrieben«, erklärte sie, ohne dass ich sie nach irgendeiner Erklärung gebeten hätte, schon gar nicht bezüglich ihrer besten Freundin. Der weitere Verlauf von Alex’ Ansprache gefiel mir dann aber doch. »Wir haben umdisponiert, wir treffen uns jetzt bei ihr.«
Ich liebte diese kleinen Momente im Leben, in denen sich unerwartet doch noch alles zum Guten wendete. Und mit einem Mal schmeckte mir auch mein Kaffee wieder.
»Ist das schlimm?«, fragte sie.
»Och, geht so.«
»Was wirst du denn heute noch machen?«
»Mal schauen«, sagte ich, obwohl ich längst Kenntnis über den Verlauf meines heutigen Abends hatte. Ich teilte viel mit Alex, und eigentlich besaß ich keine Hemmungen, auch dieses Thema mit ihr zu teilen, aber eine Notwendigkeit war nicht gegeben, und so hielt ich es für unkomplizierter, ihr nicht detailliert von jedem meiner sexuellen Abenteuer zu berichten.
»Möchtest du mitkommen?«, fragte sie weiter.
»Ein Abend mit der kratzbürstigen Emely?« Ich legte den Kopf in den Nacken und kraulte mir das Kinn, das sich stoppeliger anfühlte als erwartet. Vielleicht wäre eine Rasur vor meinem Date noch angebracht. »Ich gebe zu, dein Vorschlag klingt sehr verlockend, liebe Alex. Aber ich habe mir vor kurzem eine Wurzelbürste gekauft, die besorgt es mir noch besser als Emely.«
Alex klappte die Kinnlade auf. »Du kannst so fies sein!« Sichtlich entrüstet schüttelte sie den Kopf, wohingegen ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte.
»Dabei lief es doch letzte Woche viel besser zwischen euch, ich hatte schon Hoffnung geschöpft«, sagte sie.
Was verstand Alex denn unter besser? Wir ignorierten uns und gingen uns größtenteils aus dem Weg, das war alles.
»Ich hatte mich so auf Berlin gefreut«, sprach sie weiter. »Ich habe mich auf euch gefreut. Ich dachte, wir könnten vielleicht ein so gutes Dreierteam wie damals werden. Stattdessen ist es nur toll, wenn ich mit einem von euch beiden allein bin. Kaum treffen wir zu dritt aufeinander, ist die Stimmung unangenehm angespannt.« Die Schnute, die meine Schwester zog, ging mir näher ans Herz als mir lieb war. Wie eine kleine Ente sah sie aus, wie eine kleine, unzufriedene Ente.
»Alex«, sagte ich mit sanfter Stimme, »hast du da nicht ein bisschen viel erwartet? Und ist es nicht ein bisschen früh, darauf zu hoffen, dass sich deine Erwartungen erfüllen? Du bist gerade mal acht Tage in Berlin, meine Süße. Emely und ich haben uns viele Jahre nicht gesehen. Und unsere gemeinsame Freundschaft liegt noch weitaus länger zurück, damals waren wir Kinder. Ich glaube dir, dass es dein Wunsch wäre, aber man kann eben nicht erzwingen, dass sich Menschen mögen.«
»Aber was habt ihr denn gegeneinander?« Zu der Schnute kamen jetzt noch große, hellblaue Kulleraugen. Bei Alex war ich mir nie sicher, ob ihre Gesichtsausdrücke tatsächlich ihr scheinbar unschuldiges Innenleben widerspiegelten, oder ob sie in Wahrheit genau wusste, welche Mimik sie für welchen Zweck einsetzen musste. Wie auch immer, die Kulleraugen verfehlten nicht ihre Wirkung.
»Vielleicht sind wir uns einfach unsympathisch«, entgegnete ich.
»Genau dasselbe sagt sie auch.«
Ach ja, sagt sie das? Einerseits fand ich es dreist von Emely, Alex eine solche Antwort zu geben, andererseits war ich froh, dass sie die Vorfälle von damals und die Tatsache, wie sehr sie mich erniedrigt hatte, nicht vor meiner Schwester ausbreitete.
»Dann scheinen wir uns ja zumindest in dieser Hinsicht einig zu sein.«
»Ich finde das aber doof«, sagte Alex. »Ihr sollt euch sympathisch sein.«
»Womit wir wieder beim Thema wären, dass man Sympathie nicht erzwingen kann.«
»Aber ihr versucht es doch nicht mal!«
»Wie soll man denn versuchen, sich sympathisch zu werden?«
»Das geht schon irgendwie. Wenn man es nur will und sich anstrengt.«
Ich seufzte. Auch wenn ich Alex’ Naivität nicht teilte, so fand ich sie doch irgendwie bewundernswert. Denn eins war klar: In Alex’ Welt würde der Versuch, sich sympathisch zu werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich aufgehen. Nur leider funktionierte das nicht in meiner Welt.
»Auch wenn es mir sehr leidtut, es so hart zu sagen, fände ich es noch viel schlimmer, dir falsche Hoffnungen zu machen: Ich glaube nicht, dass Emely und ich jemals Freunde werden.«
Sie reagierte, wie ich es befürchtet hatte, und war sichtlich enttäuscht. Dieser Anblick war nicht allzu leicht zu ertragen. Also stellte ich den Kaffee ab, ging zu ihr hinüber und nahm meine kleingeratene Schwester fest in den Arm. »Es tut mir leid, kleine Alex, aber manchmal entwickeln sich Dinge leider nicht so, wie man es sich wünscht.«
Abrupt löste sie sich aus der Umarmung und funkelte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie, jede Traurigkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden und einer festen Entschlossenheit gewichen.
»Freut mich«, antwortete ich – etwas zu voreilig, wie sich herausstellte.
»Es ist zu früh, die Flinte ins Korn zu werfen«, fuhr sie fort. »Es würde dir so passen, dass ich das einfach hinnehme, aber das werde ich nicht tun. Noch gebe ich nicht auf! Und ihr beide hört gefälligst auf, euch so anzustellen! Alles klar?« Sie hob das Kinn, zog den Reißverschluss ihrer Strickjacke zu, wirbelte mit ihrer Handtasche herum und verließ die Wohnung.
Verblüfft sah ich ihr nach. Wie schaffte sie es nur immer, die komplett gegenteiligen Schlüsse aus einer Unterhaltung zu ziehen, als jene, die ich beabsichtigt hatte? Bei anderen Menschen verfehlten meine Worte doch auch nicht ihren Zweck?
Mein Handy vibrierte. Und es überbrachte die beste Nachricht, die ich mir in diesem Augenblick vorstellen konnte.
»Marion«
Bleibt es bei 21 Uhr?
»Elyas S.«
Wie dumm müsste ich sein, eine Frau wie dich zu versetzen?
»Marion«
Du sagst es. Dann bin ich in einer Stunde bei dir! Freue mich!
»Und ich mich erst«, sagte ich leise vor mich hin, schwelgte für einen Moment in den Erinnerungen unserer letzten Begegnung und träumte mit einem Lächeln von der heutigen. Schließlich steckte ich das Handy weg und ging duschen. Der Name Emely spielte schon bald keine Rolle mehr in meinen Gedanken, war bald wie weggeblasen.
~~~
Meine schwarze Prinzessin glitt in die freie Parklücke vor Alex’ Uni und ich schaffte es gerade noch, eine Kerze in den mitgebrachten Schokomuffin zu stecken, als meine Schwester sich auch schon die Beifahrertür öffnete. »Du bist überpünktlich!«, sagte sie freudig, warf ihre Tasche auf die Rücksitzbank und hüpfte zu mir in den Wagen. Als ihr Blick auf den Schokomuffin fiel, zog ich ein Feuerzeug aus der Tasche und entzündete die kleine Kerze. »Herzlichen Glückwunsch zu unserem Zweiwöchigen«, sagte ich.
Erst weiteten sich ihre Augen, dann begann ihre Unterlippe zu zittern. »Für mich?«
»Natürlich für dich«, sagte ich und beugte mich zu ihr hinüber, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Seit zwei Wochen habe ich endlich meine Lieblingsschwester wieder bei mir. Das sollte gefeiert werden.«
Sie sah mich eine Weile gerührt an, quiekte dann lautstark und fiel mir um den Hals. »Du bist der beste, beste, beste Bruder der Welt! Der allerbeste! Das ist so süß von dir!«
Sie blies die Kerze aus und nahm zwei große Bissen vom Muffin. Es gab Frauen, die hatten gar keinen Appetit, und es gab Frauen wie Alex, die glichen den Mangel an Appetit von anderen Frauen mit doppeltem Appetit aus. »Der isch scho lecker!«, schmatzte sie mit vollem Mund. »Schelber gebacken?«
»Selber gekauft.«
»Na, immerhin nicht geklaut!«, grinste sie und fiel mir ein weiteres Mal um den Hals. Nachdem ich auf jeder Wange zwei dicke Schokomuffin–Bussis bekommen hatte, entschuldigte sie sich für ihre Überschwänglichkeit, um mir gleich darauf noch zwei weitere Schokomuffin-Bussis auf die Wange zu drücken.
»Schon gut, kein Grund für Entschuldigungen«, entgegnete ich. »Ich bin es gewohnt, dass Frauen so auf mich reagieren.«
Sie verdrehte die Augen, stöhnte und gab mir einen Klaps auf die Schulter. Leise lachend startete ich den Wagen und lenkte ihn in den Verkehr.
»Also auf ins Freibad?«, fragte sie.
»Auf ins Freibad«, antwortete ich, »oder eher gesagt ins Strandbad Weißensee.«
»Noch besser!« Drei weitere Bissen und der Schokomuffin war Geschichte.
Am Strandbad angekommen, sah man vor lauter roten Langnese-Sonnenschirmen kaum den See, geschweige denn den Strand. Der Sommer war noch kein allzu langer Gast in diesem Jahr und wir nicht die Einzigen, die die ersten richtig warmen Sonnenstrahlen mit möglichst viel nackter Haut entgegennehmen wollten. Wir holten unsere Taschen mit den Badesachen aus dem Auto und suchten auf dem mit Handtüchern und Badegästen übersäten Strand nach einer Lücke für uns.
»Ist denn das Seewasser sauber? Kann man hier bedenkenlos baden?«, fragte Alex. Weil sie mit ihren Absätzen im Sand schlecht vorankam und ihr Gehverhalten stark an einen Storch im Salat erinnerte, zog sie die Schuhe aus und ließ sie zwischen ihren Fingern baumeln.
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Da hier immer viel los ist, gehe ich mal davon aus.«
»Also warst du schon öfter hier? Dann müsstest du doch eigentlich wissen, ob du bei einem deiner Besuche schon mal die Krätze bekommen hast?«
Wenn ich’s mir recht überlegte, war ich zwar tatsächlich schon öfter hier, hatte aber kein einziges Mal, nicht mal mit den Zehenspitzen, das Wasser berührt. Was wohl daran liegen könnte, dass meine Intention für einen Strandbad-Besuch weniger im Baden lag, sondern vielmehr in der Leichtigkeit, mit hübschen und halbnackten Frauen ins Gespräch zu kommen. Ohne dass Alex es bemerkte, warf ich einen unauffälligen Blick auf mein Handy, suchte nach »Wasserqualität Strandbad Weißensee« und fand widersprüchliche Aussagen. Auf der Homepage wurde von ausgezeichneter Qualität gesprochen, bei Wikipedia dagegen von nicht besonders gut, aber bedenkenlos.
»Badeseen sind doch immer ein bisschen versifft«, sagte ich und ließ das Handy wieder in meine Tasche gleiten. »Dafür brennt kein Chlor in den Augen. Jetzt zum Sommeranfang würde ich mir keine Sorgen machen, nach zwei Monaten stehender Hitze ohne Regen dagegen schon.«
»Na dann«, antwortete sie und breitete ihr Handtuch auf einer freien Stelle aus. »Meins!«, rief sie und ließ sich darauf plumpsen. Etwas eleganter und ohne dabei zu schreien tat ich es ihr nach.
Man(n) war nie zu alt, um seine kleine Schwester unterzutauchen, und ich dachte wehmütig daran, wie lange ich das schon nicht mehr getan hatte, als ich sie vom Strand aus beim Schwimmen beobachtete. Am liebsten wäre ich ihr sofort hinterher, aber sowohl Alex als auch ich hingen zu sehr an unseren Wertsachen, als dass wir sie einem Dieb derart leicht überlassen wollten. Einer von uns beiden musste also immer Handtuch-Wache halten. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als Alex in der Ferne beim Baden zuzusehen und darauf zu hoffen, dass sich mir demnächst irgendwann die Gelegenheit bot, sie zumindest in der Badewanne unterzutauchen – besser als nichts.
Ein Gutes hatte die Handtuch-Wache jedenfalls: Ich bekam ein bisschen Farbe ab. Und der Blick auf die Bikini-Schönheiten war auch nicht zu verachten. Auch wenn es manchmal nicht leicht war, all den Versuchungen zu widerstehen, beließ ich es bei Blickkontakten, schließlich war Alex der Grund meines Hierseins und daran sollte sie auch keine Zweifel hegen.
Die Haare mit einer Klammer nach oben geklemmt und am Körper vor Wasser nur so triefend, kam sie zu mir an den Strand gelaufen und rieb sich mit einem Handtuch trocken. »Ich musste gerade so lachen«, sagte sie. »Erinnerst du dich daran, als wir zum letzten Mal an einem See waren? Vor drei Jahren ungefähr?«
Manchmal bestanden Erinnerungen nur aus Bildern, und manchmal waren die vergangenen Gefühle mit einem Schlag leider ebenfalls wieder präsent. Ich verzog das Gesicht und grummelte. Die Kurzfassung: Ich hatte Alex untergetaucht, und sie hatte mir daraufhin unter Wasser die Badehose heruntergezogen. Bis dahin wäre alles noch zu verschmerzen und mir den Spaß wert gewesen – das änderte sich jedoch spätestens als ich begriff, dass Alex vorhatte, mir die Badehose erst wieder an Land zurückzugeben. Jegliche Versuche, die Hose zu fassen zu bekommen und Alex an ihrem Vorhaben zu hindern, waren fehlgeschlagen, und ich musste die Erfahrung machen, wie hoch der Grad der Beschämung sein konnte, seine Blöße einzig mit den Händen verdecken und dabei noch rennen zu müssen.
»Es war so lustig!«, kicherte sie. »Emely und ich haben uns halb totgelacht, als ich ihr davon erzählte!«
Eigentlich war ich über diesen Vorfall längst hinweg, aber es gab genau eine Person, der ich nicht mal den Ansatz eines Lachens, nicht mal das leiseste Zucken eines Mundwinkels auf meine Kosten gönnte.
»Du machst dich hinter meinem Rücken ausgerechnet mit Emely über mich lustig?«
Alex grinste. »Na klar.«
Ich schnaubte. Und ärgerte mich. Vor allem deshalb, weil ich heutzutage viel lässiger auf ein Vorkommnis wie dieses reagieren würde: Ich würde entspannt aus dem Wasser laufen und mir keinerlei Mühe bezüglich des Verdeckens geben – warum auch? Jeder könnte froh sein, einen freien Blick auf meine äußerst schönes und vollkommen gerade gewachsenes Prachtstück zu ergattern. Es wäre egoistisch, diesen Anblick nur für mich selbst aufzusparen.
»Wie schade, dass sie heute keine Zeit hatte«, fuhr Alex fort.
»Du hast Emely zum Schwimmen eingeladen?« Meine Frage klang entsetzter, als ich es beabsichtigt hatte.
»Ja, zu dritt wäre es doch super geworden! Außerdem hätten wir uns dann mit dem Aufpassen besser abwechseln und immer zu zweit schwimmen gehen können.«
Bis eben war ich, die Ellbogen aufgestützt, der Länge nach auf dem Handtuch gelegen, nun setzte ich mich in den Schneidersitz. »Und zu zweit ist es nicht schön?«, fragte ich. »Ich dachte, unser Ausflug heute wäre so ein Bruder-Schwester-Ding.«
Alex lächelte mich an und krabbelte zu mir aufs Handtuch. »Aber natürlich ist es auch mit dir allein schön«, sagte sie und lehnte sich seitlich an mich. »Sehr schön sogar.«
Irgendwie stimmte mich diese fast schon zärtliche Antwort zufrieden, aber irgendwie auch nicht. Emely wurde mehr und mehr zu einem Problem. Wie sollte man jemandem aus dem Weg gehen, der einem ständig unmittelbar vor die Nase gezerrt wurde? Und wie sollte ich Alex begreiflich machen, dass sie das in Zukunft unterlassen sollte? Auch wenn ich in den letzten Jahren nicht ein einziges Wort über die Vorfälle aus der Vergangenheit zwischen Emely und mir verloren hatte, so überlegte ich in letzter Zeit häufiger, ob ich heute, sieben Jahre später, nicht doch den Mund aufmachen sollte. Aber was wäre das Resultat? Alex wäre nicht Alex, würde sie diese Information vertraulich behandeln und von dort an respektvoll Rücksicht nehmen – genau das Gegenteil würde eintreten. Sie würde dieses wilde Skandal-Flackern in den Augen bekommen: Zwischen Emely und ihrem Bruder ist in der Vergangenheit was gelaufen! Und obendrauf hat ihr niemand was davon gesagt! Vor meinem geistigen Auge sah ich sie bereits in der Wohnung wild gestikulierend auf und ab tigern. Und wie würde es weitergehen? Alex würde darauf bestehen, dass die alten Konflikte aufgearbeitet werden, mich und Emely an einen Tisch zerren und erst wieder aufstehen, wenn wir mit der Gitarre im Kreis saßen und Kumbaya sangen.
Aber all das wollte ich nicht. Ich wollte mich nicht mit Emely versöhnen oder gar die Vergangenheit bereinigen. Ich hatte mich in ihr getäuscht und sie hatte mich wie ein Handtuch benutzt und in die Ecke geworfen, ja, sogar vor meinen Freunden hatte sie mich gedemütigt. Jahrelang hatte ich dieses Mädchen in meinen Gedanken auf Händen getragen und mein Herz für sie fühlen lassen. Emely gehörte nicht zu meiner Familie, ich würde ihr keine zwanzig Chancen geben – sie hatte eine einzige gehabt und diese versaut. Damit war sie untendurch. Sie war Geschichte.
Alex stupste mich an. »Wieso guckst du denn so böse?«
»Ach nichts, ich war nur in Gedanken.«
Und aus diesen kam ich auch nicht allzu schnell heraus. Zu meiner Wut mischte sich die Vorstellung, was gewesen wäre, wenn der Zufall heute nicht zu meinen Gunsten entschieden hätte und Emely dabei gewesen wäre, genau jetzt, in diesem Moment mit uns auf dem Handtuch säße. Was hätte sie getragen? Einen Bikini? Einen Badeanzug? Oder einen Tankini, der aus einer Hose und einem Oberteil bestand? Meine Fantasie entschied sich für Letzteres, in genau so einem Modell sah ich sie vor mir. Mit ihren kleinen Brüsten, ihrer blassen Haut, ihren langen Haaren, ihren kirschroten Lippen und ihrer unübersehbaren Schüchternheit.
Obwohl ich nie zuvor mit Emely am Strand gewesen war, war ihr knappbekleideter Anblick in meinen Gedanken mit scharfen, klaren Linien gezeichnet. Mein Kopf musste sich nicht anstrengen, das Bild von ihr war einfach da, als hätten es Erinnerungen dort hineingezaubert. Nur dass es diese Erinnerungen nicht gab. Für eine Weile beobachtete ich sie gedanklich, wie sie mit angezogenen Beinen dasaß und ihre nackten Füße in den Sand grub, wie sie dabei über die Schulter hinweg zu mir sah und blinzelte, weil ihr Haarsträhnen in die Wimpern fielen.
Früher war Emely für mich die schönste Frau der Welt gewesen. Selbst belanglose Dinge wie ihre Handgelenke hatten eine solche Faszination auf mich ausgeübt, dass ich sie vergötterte. Dumme, blöde Handgelenke. Und doch so zart und mit weicher, samtener Haut überzogen, dass ich sie ständig berühren, mit meinen Fingern über sie streichen und spüren wollte.
Wenn ich mir Emely heute ansah, wurde mir bewusst, wie sehr meine damaligen Gefühle meine Wahrnehmung vernebelt hatten. Emely war nicht die schönste Frau der Welt. Würde ich ihr unbekannterweise auf der Straße über den Weg laufen, es gäbe keinen Grund, mich nach ihr umzudrehen oder Stunden nach der Begegnung noch an sie zurückzudenken.
Ein entscheidendes Eisen hatte das hochnäsige Fräulein Winter aber durchaus im Feuer: Sie war süß. Ihre Gesichtsausdrücke, ihre trotzige Art, ihre Unsicherheit und ihre verzweifelten Versuche, sich elegant fortzubewegen. Verband man diese Eigenschaften mit ihrem Aussehen, ergab die Kombination ein süßes Elixier.
Je länger ich vor mich hin sinnierte, desto mehr hinterfragte ich mein momentanes Verhalten, dieser Frau auf Biegen und Brechen aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war diese Vorgehensweise ja genau die Falsche? Vielleicht machte ich damit alles noch schlimmer? Wenn ich die letzten zwei Wochen reflektierte, war genau das eingetreten.
Ich wünschte mir zusehends, dass Emely sich in Luft auflöste, einfach verschwand und in den abwesenden Zustand der letzten sieben Jahre zurückkehrte. Das tat sie aber nicht. Und wer wusste, ob sie es überhaupt jemals tat. Vielleicht war es an der Zeit umzudenken. Vielleicht musste aus meinem passiven Verhalten ein aktives werden. Vielleicht sollte ich den Kontakt ein einziges Mal ganz nah und intensiv suchen, um ihn in Zukunft mit einer Leichtigkeit in weite Ferne rücken zu lassen. Standen die Chancen nicht höher, dass mein Ärger abschwoll, sobald ich einmal von dem Elixier gekostet hätte? Ja, vielleicht taten sie das …
Emely einmal vögeln und dann fallen lassen. Sie würde erfahren, wie sich Fallenlassen anfühlte, und könnte sich eine Lektion daraus ziehen. Wäre ich damit nicht sogar ein Wohltäter? Es gab weitaus schlechtere Angelegenheiten, als eine Nacht mit mir zu verbringen. Genau genommen, wäre es eine Win-win-Situation für uns beide: Ich hätte meine Rache für damals und meine Ruhe für die Zukunft – Emely könnte aus der Erfahrung lernen und würde aus dem besten Sex ihres Lebens profitieren. Niemand käme zu Schaden, im Gegenteil, in Wahrheit täte ich ihr einen Gefallen.
Vor meinem geistigen Auge spielte ich das Szenario ein paarmal durch und kam zu dem Schluss, dass die Umsetzung ein Kinderspiel wäre. Ich war längst nicht mehr der hagere, unscheinbare Junge von früher, der Frauen nur aus dem Lexikon kannte und in Schüchternheit verfiel, sobald er einem echten Exemplar gegenüberstand. Damals hatte mir Emely widerstehen können, aber heute, so war ich mir sicher, konnte sie das nicht. Mein Aussehen war schon der Öffner für so manch verschlossene Tür gewesen, und mein Charme erledigte den Rest. Im Handumdrehen hätte ich das fuchsteufelswilde Miezekätzchen gezähmt und zum Erliegen gebracht.
Der Gedanke gefiel mir, löste irgendetwas in meinem Inneren aus, das mich mit tiefer Befriedigung erfüllte.
Ich sah zu meiner Schwester, deren Kopf immer noch an meiner Schulter lehnte und deren Mund unaufhörlich vor sich hin brabbelte, ohne dass ich auch nur einem einzigen Wort Gehör geschenkt hatte. Wenn jemand so viel redete wie Alex es tat, konnte es schon mal passieren, dass man den vertrauten Klang ihrer Stimme vermeintlich dem Hintergrund statt dem Vordergrund zuordnete. Glücklicherweise hatte sie meinen Mangel an Konzentration aber nicht bemerkt. Und unglücklicherweise wurde mir bewusst, dass meine gedankliche Spielerei – oder sagen wir besser: meine neue Affinität zum Schildkröten-Sex – einen gewaltigen Haken barg, und dieser Haken trug den Namen Alex. Sie wäre böse auf mich. Wenn ich Pech hätte, sogar bitterböse. Und wenn ich doppelt Pech hätte, würde sie zu unseren Eltern rennen, dann wäre meine ganze Familie böse auf mich.
Allein das machte mich schon wieder stinkwütend auf Emely. Wie ein Mafia-Boss hatte sie ihre Kontakte innerhalb meiner Familie geknüpft. Aber wenn sie glaubte, sie hätte sich damit von allen Seiten abgesichert, dann hatte sie sich geschnitten. Es war alles eine Frage der Vorgehensweise. Diese müsste klug gewählt sein, damit am Ende nur die Tatsache steht, dass zwei erwachsene Menschen Sex miteinander hatten und einer der beiden Gefühle entwickelte und der andere eben nicht – so, wie es tagtäglich tausendmal passierte. Ich würde rührselig bedauern, dass ich die Gefühle nicht erwiderte, und niemand könnte mir eine Schuld zusprechen.
Auch wenn ich meine Argumentation sehr stichhaltig fand, keine handfesten Kontrapunkte sie zerlegen konnten und meine Überzeugung von Sekunde zu Sekunde wuchs, gab es doch irgendwo tief in meinem Inneren eine Unsicherheit, einen undefinierbaren Zweifel, der sich nicht durch einen glasklaren Einwand bemerkbar machte, aber sich mit einem ganz leisen, unwohlen Gefühl in meiner Bauchgegend verteilte. Dieses Gefühl wurde ich auch dann nicht los, als Alex und ich unsere Handtücher zusammenpackten und den Heimweg antraten. Als wir unser Ziel fast erreicht hatten, nur noch vier Querstraßen von unserer gemeinsamen Wohnung entfernt waren und ich mir langsam um die Verschwiegenheit meiner Schwester Sorgen machte – sie hatte in den letzten zwanzig Minuten höchstens fünf Sätze gesprochen –, fand sie nun doch ihre Stimme wieder, auch wenn mir der Sinn ihrer Worte erst einmal verschlossen bleiben sollte.
»Da war neulich so ein Mann«, sagte sie.
Ich wartete darauf, dass der Satz weiterging, doch anstelle dessen stand da nur ein Punkt. »Ein Mann?«, fragte ich.
»Ja.«
Statt meinen verwunderten Blick aufzufangen, sah Alex aus dem Fenster.
»Und was wollte der?«
»Der war blond.«
Mein Augenmerk fiel aufs Navi, es zeigte mir vorbildlich die Fahrtrichtung an, aber wie so oft vermisste ich die Funktion, mir Frauensprache ins Deutsche zu übersetzen.
»Da war also ein Mann und der war blond«, fasste ich zusammen – obwohl ich mir nicht im Klaren war, was ich da eigentlich zusammenfasste.
»Genau.«
»Und was war mit dem?«
»Den hab ich im Treppenhaus gesehen.«
»Ein Bewohner also?«
»Nein, der hatte eine schwarze Tasche.«
Seit wann gab es keine Bewohner mit schwarzen Taschen? Oder meinte sie vielleicht eine Werkzeugtasche und schloss deshalb einen Bewohner aus?
»Der Heizungsableser?«, fragte ich und setzte den Blinker, als wir an eine große Kreuzung heranfuhren.
»Nein, Elyas.« Sie stöhnte. »Doch nicht der Heizungsableser!« Sie warf mir einen Blick zu, der mir vermitteln sollte, dass ich ein Idiot bin, und so langsam fühlte ich mich auch wie einer. Falls dieses Gespräch irgendeiner Logik folgte, so reichte mein Intellekt nicht aus, diese als solche zu erkennen.
Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, fasste ich ein weiteres Mal die spärlichen mir bekannten Fakten zusammen. »Dir ist also ein blonder Mann mit schwarzer Tasche in unserem Treppenhaus begegnet.«
»Genau.«
Einerseits war ich froh, nicht erneut als Idiot abgestraft zu werden, andererseits brachte mich auch die wiederholte Zusammenfassung nicht weiter. »Okay, Alex, ich frage noch einmal: Und was war mit dem?«
»Das war letzte Woche auf der Treppe zum fünften Stock«, sagte sie.
»Also unser direkter Nachbar?« In der letzten Fragerunde war er mir erspart geblieben, dafür bekam ich den Idioten-Blick jetzt doppelt. »Unser Nachbar ist erstens dunkelhaarig, zweitens über fünfzig und drittens ’ne Frau, Elyas!«
Ich seufzte. »Dann sag mir doch bitte einfach, worauf du hinaus möchtest.«
»Die schwarze Tasche, die der Mann hatte, die stand später, als ich wieder nach Hause kam, in unserer Wohnung!«
Und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Bei uns ist jemand eingebrochen?«, fragte ich und verriss fast das Lenkrad. »Wieso sagst du das denn erst jetzt?«
Alex stöhnte so laut, wie man nur laut stöhnen konnte. Was denn, lag ich jetzt schon wieder falsch?
»Verstehst du denn gar nichts?«, fragte sie. »Der blonde Mann mit der schwarzen Tasche war ein Besucher von dir!«
»Ein Besucher von mir?« In meinem Kopf schwirrten immer noch der Heizungsableser und der Einbrecher, bis sich plötzlich der Nebel um meine Gedanken auflöste und ein klares Bild zum Vorschein kam: Blond, schwarze Tasche, letzte Woche. Sie meinte doch nicht etwa meinen Kumpel?
»Kann es sein, dass du mich gerade auf die kryptischste Art und Weise nach dem Besuch von Sebastian fragst?«
Ich bekam keine Antwort, stattdessen murmelte sie leise »Sebastian« vor sich hin, und irgendetwas, das wie »Dachte ich’s mir doch« klang.
»Was dachtest du dir?«
»Na ja, dass das Sebastian gewesen sein könnte. Dein bester Freund, von dem du mir erzählt hast.«
Zwar war jetzt endlich geklärt, von wem sie sprach, aber das ganze Drumherum gab mir nach wie vor Rätsel auf. Normalerweise war Alex doch um Direktheit nicht verlegen? Wieso hatte sie mich nicht einfach gefragt, wer mich letzte Woche besucht hatte? Und warum wartete sie acht Tage damit?
»Bist du sauer?«, fragte ich. »Geht es darum, dass ich euch nicht vorgestellt habe? Alex, es tut mir leid, ich bekam dein Heimkommen nicht mit, sonst hätte ich es natürlich getan. Ich habe meinen Freunden viel von dir erzählt und schon angekündigt, dass sie meine kleine Schwester unbedingt kennenlernen müssen und auch bald werden. Sie sind alle furchtbar neugierig auf dich.«
»Sebastian auch?«
»Natürlich er auch. Warum nicht? Ihm habe ich sogar am meisten von dir erzählt.«
»Hm-hm«, machte Alex, und hängte mit Verzögerung noch zwei weitere »Hm-hms« hinten dran. Damit war das Gespräch beendet, und mir blieb nichts anderes, als die übriggebliebenen Fragezeichen, die es in meinem Kopf hinterlassen hatte, beiseite zu schieben.
Nachdem ich endlich einen Parkplatz gefunden hatte und mit Alex die große Haustür ansteuerte, war ich der Einzige von uns beiden, der hineinbiegen wollte – Alex lief schnurstracks geradeaus weiter. Die Tür mit der flachen Hand aufhaltend, blieb ich stehen. »Kommst du nicht mit nach oben?«
»Ich habe dir doch vorhin lang und breit erklärt, dass meine helle Haut zu dieser Jahreszeit nicht zu meinen dunklen Bikinis passt und ich mir gleich nach unserem Ausflug einen neuen mit blasserer Kontrastfarbe besorgen werde, damit ich bei meinem ersten Badebesuch im nächsten Jahr nicht wieder so albern aussehe wie heute!«
Eigentlich war ich mir sicher, dass ich mir so einen Quatsch der Absurdität wegen gemerkt hätte, aber offenbar war mir das tatsächlich durch die Lappen gegangen. »Alex«, sagte ich, »du hast kein bisschen albern ausgesehen. Du warst hübsch wie immer.«
Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht. »Das ist lieb von dir! Leider bist du aber erstens Verwandtschaft und zweitens ein Mann. Deswegen kann ich nicht auf dich hören. Das verstehst du doch, oder?«
Nein, ehrlich gesagt verstand ich das nicht. Was ich jedoch durchaus verstand und schon mehrmals leidlich verstehen musste, war die Tatsache, dass man Alex von einem Vorhaben um nichts in der Welt abbringen konnte. Da sie sich in unserem Viertel inzwischen bestens zurechtfand und meine Begleitung ohnehin jedes Mal ablehnte, ließ ich sie ziehen und war mit einem Fuß bereits über der Schwelle, da hörte ich sie noch einmal rufen. »Was ich noch vergessen habe! Emely kommt später vielleicht noch vorbei!«
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und der laute Knall untermauerte meine düsteren Gedanken, die sich schlagartig mit dem Namen »Emely« wie eine Gewitterwolke in meinem Kopf zusammenbrauten. Kurz dachte ich zurück an das Gefühl von Befreiung, das mich heute Nachmittag überkommen hatte, als ich meine Idee von einer persönlichen Rache an dem hochnäsigen Fräulein Winter durchspielte. Wieder empfand ich es als äußerst angenehm, dieses Gefühl zu spüren und badete ein bisschen darin, als ich die fünf Stockwerke zu meiner Wohnung nach oben stieg.
Nach einem sechstägigen Klack-gegen-Klirr-Kampf – jedes Mal wenn ich die Vanille-Duftkerze zehn Zentimeter nach links schob, hatte Alex sie in meiner Abwesenheit wieder zehn Zentimeter nach rechts geschoben – konnte sich endlich das dumpfe Klack durchsetzen und mein Schlüsselchenplatz den Triumph für sich gewinnen. Ich ging duschen, blätterte ein bisschen in diversen Seminarunterlagen, spürte bald wieder dieses Ziehen im Bauch, das mich seit geraumer Zeit überkam, sobald ich mich mit dem Thema Medizin befasste, legte meinen Ordner lustlos wieder beiseite, ließ mich im Wohnzimmer aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Für gewöhnlich lief in dieser Kiste nur selten etwas, das mich interessierte, und wenn doch, schaltete ich zu spät ein oder war genervt von den vielen Werbeunterbrechungen. Auch heute stand mir eigentlich nicht der Sinn danach, aber wonach er mir stattdessen stand, wusste ich leider nicht. Wenn ich auf die Angespanntheit meiner Muskeln achtete, schien Entspannung nicht die schlechteste Wahl zu sein. Ich dehnte meinen Nacken, machte es mir gemütlich und wartete auf den Film, der laut Videotext-Beschreibung zumindest halbwegs interessant klang und in zehn Minuten starten sollte. Falls Emely später wirklich noch vorbeikommen würde, hoffte ich inständig, dass sie sich mit Alex in deren Zimmer verkrümelte. Allmählich sah ich es nicht mehr ein, ständig die Bildfläche zu räumen, wenn Mademoiselle Winter ihre Gemächer verließ und in meinen herumstolzierte, als wären es ihre eigenen.
Kaum begann der Vorspann des Films, machte meine Schwester ihrem berühmt berüchtigten Timing alle Ehre und hatte offenbar wieder einmal ihre Schlüssel vergessen – es klingelte. Ich quälte mich hoch, schlurfte zur Tür und dachte mir gerade noch, dass Alex ihre Einkäufe heute aber ausgesprochen fix erledigt hatte. Dass ich mich damit nur irren konnte, merkte ich in der Sekunde, als ich die Tür öffnete und in die mandelförmigen Augen blickte, die ich hier am allerwenigsten sehen wollte. Auch wenn Emely es versuchte zu verbergen, schnaufte sie wegen des Treppenaufstiegs ordentlich, und ihr Gesichtsausdruck, als sie mich erkannte, gefiel mir ganz und gar nicht.
»Hi«, sagte sie gepresst.
Sollte ich mich jetzt etwa entschuldigen, dass ich ihr die Tür geöffnet hatte? Sie konnte froh sein, dass ich sie nicht gleich wieder zumachte. Direkt vor ihrer hochnäsigen Nase.
»Hey – Emely war der Name, oder?«, erwiderte ich.
»Scherzkeks«, murmelte sie. »Lässt du mich jetzt rein? Oder hast du noch ein paar andere Gags vorbereitet?«
Biestige, kleine Miezekatze. Vielleicht sollte ich sie mir über die Schulter werfen und zum Tierarzt tragen, damit der ihre Krallen stutzen konnte. Mit viel Glück hätte er auch noch ein paar Erziehungstipps für mich.
Eigentlich wäre die richtige Antwort gewesen: Alex ist nicht da. Komm in zehn Jahren wieder. Aber wollte ich es ihr so einfach machen? Hätte ich nicht viel mehr Spaß und Genugtuung, wenn ich …
»Gut, wenn du unbedingt darauf bestehst.« Ich zuckte mit den Schultern und machte ihr den Eingang frei.
Mit einem charmanten Lächeln schloss ich die Tür hinter ihr, bewegte mich wieder in Richtung Sofa, während sie zielstrebig den Flur ansteuerte. Ihr den Rücken zugewandt, setzte ich mich und lauschte ihren Schritten bis sie verstummten: Sie hatte Alex’ Zimmertür erreicht.
»Wohin gehst du?«, fragte ich, ohne mich umzudrehen.
Es dauerte einen Moment, ehe Emely antwortete. »Zu Alex?«
»Ach so … Ja«, sagte ich. »Alex ist nicht da.« Das Grinsen, das sich auf meine Lippen legte, fühlte sich zu schön an, um es einstellen zu können.
Sie reagierte nicht, dafür hörte ich nach ein paar Sekunden, wie die Klinke zu Alex’ Zimmer hinuntergedrückt wurde. Dann ertönte das hohle Klacken des Lichtschalters und daraufhin kehrte Stille ein. Eine Stille, in der ich mich zusammenreißen musste, das Lachen in meiner Kehle zu unterdrücken. Dieser Zustand verschärfte sich noch einmal, als ich Emely im Hintergrund plötzlich knurren hörte. Ernsthaft, sie knurrte! Wie eine blöde Katze! Ich konnte es nicht fassen und musste all meine Selbstbeherrschung heranziehen. Gegen das laute Lachen kam ich an, mein Grinsen blieb mir jedoch wie aufs Gesicht tätowiert. Stapf, stapf, stapf, machte es hinter mir, und dann stand Emely auf einmal vor mir, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich an, als würde sie jede Sekunde von einer fuchsteufelswilden Miezekatze in eine rasende Wildkatze wechseln, die mich auf dem Sofa zerfleischen wollte. »Sehr witzig! Das hättest du mir auch an der Tür sagen können!«, fauchte sie.
Der Kampf, mein Lachen zu unterdrücken, begann von Neuem. »Du wolltest doch unbedingt reinkommen«, sagte ich betont scheinheilig.
Sie knurrte erneut. »Du hältst dich wirklich für wahnsinnig witzig, oder?«
Vermutlich war dies das erste Mal, dass Emely und ich einer Meinung waren. Ich hielt mich sogar für verdammt witzig, und das Schöne daran war: Ich hatte ja so was von recht. Für einen langen Moment sah ich sie an. Wie sie wütend vor mir stand, die Arme fester als nötig verkreuzte, die Füße und Beine eng zusammenhielt, als wäre sie eine Statue. Ihre dunklen Augen straften mich mit Verärgerung, und doch erkannte ich wieder das leichte Aufflackern von Unsicherheit darin. Je länger ich sie ansah, desto mehr schwand meine Amüsiertheit. Stattdessen begann es in meinen Fingern zu kribbeln. Ihr Anblick und ihr Verhalten übten einen Reiz auf mich aus, der all meine Bedenken, die mich noch bis vorhin plagten, in den Hintergrund rücken ließ. Manchmal traf man eine Entscheidung, und manchmal wurde einem die Entscheidung einfach abgenommen. Emely hatte heute in dem Moment, als sie den Finger auf die Türklingel legte, ihr Schicksal besiegelt. Scheiß auf einen Plan, scheiß auf ein geschicktes Vorgehen – ich wollte sie sofort. Und es würde so leicht werden, dass ich mich jetzt schon in ihr spürte.
»Na komm schon«, sagte ich ruhig. »Erstens war es tatsächlich witzig. Zweitens kommt Alex sicher gleich nach Hause, und drittens darfst du dich ruhig zu mir aufs Sofa setzen, bevor du noch eine Stunde dämlich in der Gegend herumstehst.«
Abwartend sah ich sie an, doch sie zierte sich ein wenig.
»Ich werde auch nicht beißen«, beteuerte ich. Unter Umständen könnte man das als Lüge bezeichnen, denn ich hatte sehr wohl vor sie zu beißen. Sogar an mehreren Stellen.
Es dauerte noch Weile, aber dann kam sie meiner Aufforderung tatsächlich nach und setzte sich zu mir. Wenn auch mit einem kleinen Abstand.
»Geht doch«, sagte ich. »Und es war doch lustig.«
Der nächste Satz ging ihr sichtlich schwer über die Lippen, umso mehr kostete ich ihn aus. »Vielleicht minimal«, sagte sie.
Wie zwei Wörter nur so guttun konnten … Ich lächelte, veränderte meine Sitzposition und wandte mich ihr zu. Für den Bruchteil einer Sekunde weiteten sich ihre Augen, als hätte ich bei meiner Bewegung ein Messer mit mir geführt, dann sah sie schnell wieder in Richtung Fernseher. »Worum geht es in dem Film?«, fragte sie hastig.
Wie konnte sie bei diesem Grad an Nähe schon derart nervös werden? Ich fand zwar keine Antwort, jedoch die Gewissheit, dass es mir gefiel.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Als ich ihn mir ansehen wollte, hat es geklingelt.«
»Tja, blöd gelaufen, würde ich sagen.« Ihre Stimme klang gleichermaßen stur wie zittrig, während ihr Blick weiterhin starr auf die Flimmerkiste gerichtet blieb. Ich sagte nichts mehr, beobachtete sie einfach nur von der Seite. Ihr Profil, ihre Stupsnase, wie sie ständig unauffällig in meine Richtung schielte und ihre Wangen einen leichten Roséton annahmen. Je nervöser sie wurde, desto selbstsicherer wurde ich. Langsam, beinah wie ein Akt des Zufalls wirkend, streckte ich den Arm aus und legte ihn auf die Sofalehne hinter ihrem Kopf. Ich müsste nur die Hand heben, dann könnte ich ihr durch die dunklen Haare streichen. Wie sie wohl dufteten? Ich stellte mir vor, wie Emely heute Nacht schweißgebadet unter mir lag, wie ich meine Nase in ihren Haaren vergrub und konnte den Moment gar nicht abwarten. Dann tat Emely auf einmal etwas, mit dem ich zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht gerechnet hatte. Sie lehnte sich nach hinten, direkt in meinen Arm, machte es mir noch viel leichter, als ich es für möglich gehalten hatte. Ein erfahrener Mann wie ich wusste ein Zeichen wie dieses zu deuten, kurzerhand verringerte ich den Abstand zwischen uns beiden und rutschte näher an sie heran. »Weißt du, dass du wunderschön bist, Emely?«, hauchte ich.
»Findest du?«, fragte sie und drehte den Kopf in meine Richtung. Mit gesenkten Wimpern sah sie mir schüchtern in die Augen. Ganz dem Anschein nach könnten wir Probleme bekommen, es überhaupt noch bis ins Schlafzimmer zu schaffen.
»Sehr sogar«, flüsterte ich und legte ihr die Hand auf den Oberschenkel, fuhr ihn zärtlich auf und ab. Ihr Blick fiel nach unten, aber kein Wort des Einwandes verließ ihre Lippen. Ihre Lippen … Auf genau jenen ruhten meine Augen, konnten keine Sekunde mehr von ihnen ablassen. Ich wollte sie auf meinen spüren, meine Zunge in Emelys Mund tauchen und sie schmecken. Wie von selbst neigte ich meinen Kopf, fühlte das Knistern, das sich vor einem Kuss aufbaute, und ließ jeden Millimeter, der uns trennte, Stück für Stück zur Vergangenheit werden. Emely folgte meiner Einladung, kam mir mit dem Gesicht entgegen, sodass sich unsere Lippen unausweichlich treffen würden. In der Sekunde der Berührung öffnete ich den Mund, doch die Berührung passierte nicht, stattdessen wich Emely aus, ließ mich ihren Atem an meinem Ohr spüren und flüsterte mir leise »Elyas« zu.
»Hm …«, machte ich, von der Verzögerung elektrisiert.
Ihre Stimme klang so sinnlich, so verheißungsvoll. »Du spielst Klavier und studierst Medizin, richtig?«
»Hm …«, machte ich erneut und verfestigte den Griff um ihren Oberschenkel, grub mich tiefer in ihr Fleisch.
»Das heißt, deine Finger sind sehr wichtig, oder?«, flüsterte sie weiter.
»Hm?«, fragte ich irritiert.
»Dann würde ich, wenn du nicht willst, dass ich dir jeden einzelnen davon breche, auf der Stelle meine Hand da wegtun!«
Die plötzliche Veränderung ihres Tonfalls und der Inhalt ihres Satzes wirkten wie ein Schwall eiskaltes Wasser, der sich erst über meinen Kopf und dann über meinen Schritt ergoss. Mit einem Mal war ich hellwach, und der zuckersüße Traum, in dem ich mich bis gerade eben noch befand, löste sich in seine einzelnen, unwahren Bestandteile auf.
Nachdem der erste Schreck von mir abließ und meine Gedanken wieder klarer wurden, brach Enttäuschung über mich herein, die ich durch lautes Seufzen nach außen zeigte. »Das wäre auch zu einfach gewesen.«
Wenn Emely mich gerade mit eiskaltem Wasser übergossen hatte, so sorgte mein Satz bei ihr wohl für die genau gegenteilige Temperatur: Sie begann zu kochen. Und je mehr sie vor meinen Augen sprichwörtlich verdampfte, desto mehr erheiterte mich ihr Anblick. Ich schenkte ihr mein verführerischstes Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Hey«, sagte ich, »einen Versuch war’s wert.«
»Elyas!«, zischte sie.
»Ja?«
»Deine Hand liegt immer noch auf meinem Oberschenkel!«
»Huch«, machte ich, grinste aber nur noch breiter. Ich hatte mich schon gewundert, wann ihr das endlich auffiel. Mit einem Seufzen löste ich meine Hand von dem schönen Ort.
»Für wie unwiderstehlich musst du dich eigentlich halten? Du erzählst mir, ich wäre hübsch, und gehst ernsthaft davon aus, dass ich mich deswegen gleich Hals über Kopf in dich verliebe?« Sie starrte mich an. »Das ist so armselig, Elyas! Selbst für deine Verhältnisse!«
Oh je. In diesem Moment begriff ich, dass ich meine Annäherungsversuche zum denkbar falschesten Zeitpunkt gewählt hatte. Ihrem zickigen Verhalten nach zu urteilen, musste sie zweifelsfrei ihre Tage haben.
»Wer redet denn gleich von Verlieben?«, fragte ich amüsiert. »Ein bisschen Spaß würde schon genügen.«
Nun schwappten ihre Hormone vollkommen über. Voller Verachtung schnaubte sie. »Elyas – und wenn du der einzige Mann auf der Welt wärst – vergiss es!«
»Ach ja?« Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Darf ich Madame vielleicht daran erinnern, dass wir uns schon einmal geküsst haben?«
»Ach, sieh an, daran erinnerst du dich also noch.«
Ich wusste, dass mein vermeintliches Nicht-Wiedererkennen genau ins Schwarze getroffen hatte, aber es direkt aus ihrem Mund zu hören, war noch um ein Vielfaches schöner. »Das beantwortet nicht meine Frage«, sagte ich.
»Wenn du die Antwort unbedingt möchtest, bitte!«, entgegnete sie. »Erstens war ich jung und dumm. Zweitens bereue ich es zutiefst, und drittens ist es mittlerweile verjährt und zählt nicht mehr.«
Mein Lächeln blieb, jedoch spürte ich ein Gefühl in mir aufkommen, dass ich eigentlich geglaubt hatte abgelegt zu haben. Es war derselbe Hass wie damals, als ich ihr auf dem Pausenhof gegenüberstand.
»Du denkst, ich nehme dir das ab?«, fragte ich. »Du tust doch nur so. Glaub mir, ich kenne solche Frauen wie dich.«
»So? Du kennst solche Frauen wie mich? Jetzt machst du mich aber neugierig. Lässt du mich teilhaben an deiner Menschenkenntnis und an deinen damit verbundenen und mit Sicherheit hochgeistigen Ergüssen?«
»Sehr gerne«, sagte ich, versuchte mich von ihrer unangebrachten Arroganz nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und sammelte meine Gedanken. »Du bist weder so unschuldig noch so selbstbewusst, wie du tust. Mag sein, dass du ziemlich schlagfertig bist, aber letztendlich bist du tief in dir drinnen nur ein kleines, hilfloses Mädchen. Du bist eine von denen, die auf intellektuell und belesen machen, aber eigentlich nur hören wollen, dass sie hübsch sind.«
»Davon mal abgesehen«, fügte ich hinzu, »beschränkt sich ›belesen‹ meistens nur – wie in deinem Fall sicher auch – auf Harry Potter Band 1 – 27. Doch das ist ein anderes Thema.« Nicht nur meine Worte sollten ihr verraten, was ich von ihr hielt, sondern auch mein Blick. »Tief in deinem Herzen wünschst du dir jemanden, der dir den ganzen Tag Honig um deinen frechen Mund schmiert. Jemanden, der dir dein nicht vorhandenes Selbstbewusstsein aufbaut und mit dem du vor deinen kleinen Freundinnen angeben kannst.«
Daran hatte die Miezekatze erst einmal zu kauen, stand jedoch schneller wieder auf den Pfoten, als ich es erwartet hätte.
»Wow, Elyas«, sagte sie, »ich danke dir recht herzlich für die aufschlussreiche Analyse meiner Psyche. Es war nahezu beeindruckend! Möchtest du nun auch meine Meinung zu dir hören?«
Ich faltete die Hände vor dem Bauch und lehnte mich zurück. »Ich bitte darum.«
»Nun«, sagte sie. »Du bist ein Arschloch mit einer verdammt schlechten Menschenkenntnis.«
Zugegeben, diese Antwort hatte ich nicht kommen sehen. Sie schaffte es nicht, mich wirklich zu treffen, aber wer hätte gedacht, dass die Miezekatze nicht nur fauchen, sondern auch kratzen konnte. Im Hintergrund hörte ich, wie die Wohnungstür aufgesperrt wurde, trotzdem konnte ich den Blick nicht von Emely abwenden und nahm meine heimkommende Schwester erst verzögert wahr. Mit einer großen Einkaufstüte bepackt, blieb sie im Wohnzimmer stehen und musterte uns verwundert. »Du bist ja schon hier«, sagte sie an Emely gerichtet.
»Ja«, bekam sie von ihr zur Antwort, »und wenn du kein Einzelkind werden willst, dann sollten wir möglichst schnell in dein Zimmer gehen.« Emely würdigte mich keines Blickes mehr und stand auf. Als ich ihr nachsah, wie sie in Richtung Flur lief, fragte ich mich, ob sie auch nur ansatzweise ahnte, wie sehr sie mich heute Abend herausgefordert hatte.
© Carina Bartsch
Ich hoffe so sehr, dass euch der weitere Einblick in Elyas‘ Gedankenwelt gefallen hat. Wenn ihr mir eine Freude bereiten möchtet, dann hinterlasst mir einen kleinen Kommentar mit eurer Meinung. Ich bin so gespannt!
Vielen Dank an Josefine und Irma für’s Gegenlesen <3
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