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Als kleines Weihnachtsgeschenk 2013 von mir für euch

Kirschroter Sommer

Kapitel 1

Emely?
(Elyas’ Sicht)

 

Bis gestern verfolgte mich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Woche weder joggen noch meinem anderen, üblichen Training nachgekommen war. Sport forderte eine gewisse Konsequenz – ließ man den inneren Schweinehund an einem Tag gewinnen, war er am nächsten Tag doppelt so groß. Nachdem ich heute ein Bett, einen Kleiderschrank und eine Kommode zusammengeschraubt hatte und mich gerade zum gefühlt hundertsten Mal, mit den schweren Umzugskartons meiner Schwester beladen, die fünf Stockwerke zu meiner Wohnung Stufe für Stufe nach oben quälte, löste sich mein schlechtes Gewissen jedoch in Luft auf. Das versäumte Training war um das Dreifache aufgeholt. Außerdem brachte die Anstrengung einen weiteren Vorteil mit sich, sie ließ mir nämlich kaum die Zeit, mich mit der Begegnung des heutigen Tages auseinanderzusetzen. Emely Winter. Die erste Frau, an die ich romantische Gefühle verschwendet hatte. Die Frau, die ich vor sieben Jahren zum letzten Mal gesehen hatte und der ich seitdem geflissentlich aus dem Weg gegangen war. Vorhin stand sie einfach in der Tür. Denn leider Gottes war sie die beste Freundin meiner Schwester Alex, die heute offiziell zu meiner Mitbewohnerin wurde.

Ein Umzug, der nicht gerade von langer Hand geplant war. Erst vor zwei Wochen hatte Alex mein Angebot angenommen – und heute morgen stand sie bereits mit Sack und Pack auf der Straße vor dem Wohnhaus, um das freigewordene Zimmer in meiner Zweier-WG in Beschlag zu nehmen. Wenn man mich fragte, passte Berlin ohnehin viel besser zu ihr als München. Sie war wegen ihres Studiums dorthin gezogen, aber als ihr dieses nicht mehr gefiel, blieb sie eigentlich nur noch wegen ihres Freundes, den sie in München kennengelernt hatte. Als der werte Herr (der bloß deshalb noch lebte, weil ich ihn noch nicht in die Finger bekam) dann aber meinte, auch mal mit der hübschen, blonden Zimmernachbarin von Alex vorlieb nehmen zu müssen, konnte sie nichts mehr in der bayrischen Landeshauptstadt halten.
Ich empfing meine Schwester mit offenen Armen. Nur den Rattenschwanz, den ihr Umzug bedeutete und den ich anfangs gar nicht bedachte, den mochte ich ganz und gar nicht. Es war wie bei Medikamenten: Für eine Sache waren sie gut, aber als Nebenwirkung verursachten sie Durchfall. Die unangenehme Nebenwirkung hörte in diesem Fall auf den Namen Emely.

Ich hatte wirklich versucht, ihr so erwachsen und neutral wie möglich gegenüberzutreten. Aber jegliche meiner Anstrengungen machte sie innerhalb nur eines Wimpernschlages kaputt, als sie mich gleich zu Beginn, während ich gerade Alex’ Bettgestell zusammenschraubte, mit einem derart arroganten Blick abgestraft hatte. In Alex’ Zimmer auf dem Boden kniend, vertieft in ein Sammelsurium aus Schrauben und Einzelteilen, die partout nicht zueinander passen wollten, hatte ich die herannahenden Schritte der beiden Frauen nicht gehört. Ohne jegliche Vorwarnung standen Alex und Emely plötzlich hinter mir im Raum. Wobei … Alex nahm ich, ehrlich gesagt, nicht wirklich wahr. Da war diese Frau, die ich zuletzt im Teenager-Alter gesehen hatte und die all meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihre dunklen Haare waren ein bisschen kürzer als damals, ihr Gesicht jung und frisch, genau wie früher und trotzdem anders, viel femininer gezeichnet, die kindlichen Züge waren verschwunden. Auch ihr Körper hatte weiblichere Rundungen angenommen, die geschwungene Hüfte, die Silhouette ihrer Taille, die sich unter dem T-Shirt abzeichnete, und ihr süßer kleiner Busen. Er war nicht wirklich größer geworden, und doch wirkte seine Form jetzt noch einladender als vor sieben Jahren.

In diesem Moment war es auf einmal ganz still in meinem Kopf geworden. Kein einziger Gedanke existierte. Der Berliner Lärm, der so oft beim Konzentrieren oder Einschlafen störte, war mit einem Mal komplett verstummt, als hätte jemand alle Geräusche mit einem Lautstärkeregler auf absolute Ruhe heruntergedreht. Es war wie der Moment nach einem lauten Knall. Irgendetwas war passiert. Und der Nachhall legte seine Finger um mich und lähmte meine ganze Statur. Ich stand einfach nur da und starrte sie an.

Der Schock, sie wiederzusehen, wurzelte tiefer, als ich es für möglich gehalten hätte. Dabei wusste ich, dass Emely heute kam. Es war weder ein Grund zur Freude noch ein Grund zum Durchdrehen gewesen. Da war nur dieses leicht unangenehme Gefühl in meinem Magen, das mich in den letzten Tagen hin und wieder heimsuchte. In derselben Geschwindigkeit, in der mich das Gefühl überkam, hatte ich es aber jedes Mal wieder beiseite schieben können. Ich hatte mir keine Sorgen gemacht. Und wenn ich so darüber nachdachte, dann sollte ich das auch jetzt nicht tun. Immerhin fand mein Schockmoment dank ihres arroganten Blickes ein schnelles Ende und ich gewann meine Kontrolle zurück. Das Thema Emely war abgehakt. Wenn ich tief in mich hinein hörte, war die Antwort eindeutig ein klares Ja. Es war vorbei. Schon vor vielen Jahren beendet.

Ich wischte jeden einzelnen Gedanken an die Begegnung aus meinem Kopf und konzentrierte mich wieder auf den Umzug. Als ich das dritte Stockwerk bewältigt hatte und das vierte in Angriff nahm, hörte ich irgendwo tief unter mir ein lautes Rumpeln und kurz darauf die Stimme meines Vaters schimpfen. Meine Eltern halfen ebenfalls bei dem Umzug. Solange er noch schimpfen konnte, hatte er selbst offenbar aber keinen ernsthaften gesundheitlichen Schaden von dem Zwischenfall davongetragen. Also sah ich wieder zurück nach oben, bog um das nächste Geländer und bemerkte, dass ich nicht allein auf der Treppe war. Am anderen Ende, mir ein paar Stufen voraus, kämpfte sich das Weib der Vergangenheit nach oben. Na großartig. Mir stellte sich die Frage, in welcher Geschwindigkeit sie sich fortbewegte, da ich sie in den anderen Etagen nicht vor mir gesehen hatte – Lichtgeschwindigkeit konnte es also schon mal nicht sein.
Ich versuchte, mich ihrem Tempo anzupassen, weil ich sie ungern überholt hätte. Um das zu vermeiden, hätte ich aber offenbar kriechen müssen, denn nach kurzer Zeit war ich bereits fast auf gleicher Höhe mit ihr. Sie keuchte und brummelte unverständliches Zeug vor sich hin, einmal meinte ich »Fünf verdammte Stockwerke« verstanden zu haben, sicher war ich mir aber nicht. Ein bisschen Training könnte dem hochnäsigen Fräulein Winter anscheinend auch nicht schaden. Noch ein Punkt, der dafür sprach, dass ich definitiv immun gegen sie war, ich stand nämlich eher auf sportliche Frauen als auf Schildkröten.

Eine der Stufen knarrte unter meinen Füßen und Emely linste über die Schulter. Sie erschreckte sich doppelt. Das erste Mal, weil jemand hinter ihr war, und das zweite Mal, weil dieser jemand ich war. Interessant, dachte ich mir. War ihre Klappe ohne Alex im Rücken nun nicht mehr so groß und meine Gegenwart schüchterte sie ein? Nach meinem, zugegeben, etwas unangebrachten Kommentar über ihre kleinen Brüste – als Reaktion auf ihren arroganten Blick – hatte ich mir eigentlich vorgenommen, etwas dergleichen zukünftig zu unterlassen, aber … »Im Radio bringen sie bereits durch, dass auf der Treppe zum vierten Stockwerk Stau herrscht und mit einer Verzögerung von fünfzehn Minuten zu rechnen ist.« Schwupps. Da war es auch schon raus.

Ihr Blick war finster. Weltuntergangs-finster. Oder sagten wir eher, versucht-weltuntergangs-finster, denn dafür war der Blick schlichtweg nicht angsteinflößend genug. Fuchsteufelswildes-Miezekatzen-finster traf es dagegen schon besser.
»Niemand zwingt dich, hinter mir zu laufen, wenn ich dir zu langsam bin«, fauchte sie bissig. Die Miezekatzen-Theorie war somit in Stein gemeißelt. In einer ruckartigen Bewegung drehte sie den Kopf wieder nach vorne und ließ keinen Zweifel offen, dass ihre Antwort noch einen zweiten, unausgesprochenen Teil beinhaltete: Das Ignorieren meiner Person.
Ich spürte ein Kribbeln in den Fingern. Auf meinen Lippen lag bereits der nächste Kommentar, und es kostete mich einiges an Anstrengung, ihn hinunterzuschlucken. Ich wollte ihr zukünftig aus dem Weg gehen, ihr anstandsmäßig »Hallo« und »Tschüss« sagen und jede weitere Form der Kommunikation strikt meiden – das war der Plan, den ich vorhin gefasst hatte. Emely zu reizen, auch wenn sich ein perfider Spaßfaktor dabei nicht leugnen ließ, gehörte eindeutig nicht zu diesem Plan. Also Klappe halten und weiterlaufen.

Sollte ich sie doch überholen? Oder wäre das zu bloßstellend? Immerhin war sie knallrot im Gesicht und litt fast schon, wie man es medizinisch bezeichnen würde, an einer Schnappatmung. Eine Frau bloßzustellen … Allein bei dem Gedanken daran rebellierte etwas in mir. Nein, das könnte ich nicht, das verbot mir die Achtung, die ich vor dem weiblichen Geschlecht hatte. Aber ärgern … Ja, ärgern ging definitiv durch. Und da es Emely vermutlich mehr ärgerte, wenn ich weiterhin hinter ihr lief, beschloss ich, auch genau das zu tun. Wir erreichten die vierte Etage und liefen den Halbkreis, der uns zur nächsten und letzten Treppe führte. Ich brauchte irgendetwas, um das ich meine Gedanken kreisen lassen konnte, und landete schon bald bei Marion. Ein zufriedenes Lächeln legte sich über mein Gesicht und eine angenehme Wärme floss durch meine Adern. Als ich mich an ihre langen Beine, ihre blonden Haare, ihre beachtliche Größe, ihre Vorliebe für Miniröcke und an jeden Zentimeter ihres Körpers erinnerte, der so perfekt modelliert war, als hätte ihn ein Bildhauer rein nach meinen Wünschen erschaffen und ihn mir zum Geschenk gemacht, spürte ich ihre nackte Haut nahezu wieder unter meinen Fingern. Sie war so offen, wusste, was Leidenschaft bedeutete, hatte das Wort Hemmungen vielleicht mal im Wörterbuch gelesen, aber machte nicht davon Gebrauch. Das war selten bei Frauen. Irgendeinen Makel fanden sie immer an sich, dem sie eine viel zu hohe Bedeutung beimaßen und sich dadurch selbst in ihrer sexuellen Freiheit einschränkten.

Marion war anders … Ich hatte sie vor zwei Wochen kennengelernt, als ich mit Sebastian, meinem besten Freund, eine neue Berliner Bar am Prenzlauer Berg besuchte. Marion war so unkompliziert, kein stundenlanges Baggern war vonnöten, schon zwei Stunden später fuhren wir zu meiner Wohnung und für die nächsten zwölf Stunden sollte mein Bett ihr Zuhause werden. Als sie ging und ich mich für die schöne Nacht bedankte, kam sie mir noch einmal ganz nahe und flüsterte mir ins Ohr. »Wenn du mir versprichst, dich nicht zu verlieben, aber Lust auf furchtbar schmutzige Dinge hast, dann freue ich mich von dir zu hören.« Sie küsste mich auf die Wange, steckte mir ihre Telefonnummer zu und verließ unter dem lauten Klacken ihrer hohen Absätze die Wohnung.
Der Jackpot im Leben eines Mannes.
Simpel, und doch an seiner Bedeutung nicht zu übertreffen.
Mit dem immer noch gleichen Lächeln dachte ich zurück an jene Nacht, wie sich Marions Körper unter meinem aufgebäumt hatte, wie sich ihre Fingernägel vor Ekstase in meinen Rücken gekrallt hatten, wie …

Ich hätte nicht erwartet, dass meine Gedanken ein so jähes Ende finden würden. Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht einmal gedacht, dass es überhaupt jemandem gelänge, mich – vor dem Höhepunkt – aus diesen Gedanken herauszuholen, aber Emely Winter belehrte mich eines Besseren. Der Schildkröte alle Ehre machend, stolperte sie mit dem Karton nach vorne und fiel auf die Knie, sodass sie auf allen Vieren kauerte. Direkt vor mir.
»Na hoppla«, sagte ich mit angespannten Lippen, versuchte ich doch mit aller Kraft zu verhindern, dem schadenfrohen Grinsen, das sich bereits in meinem Gesicht anbahnte, freien Lauf zu lassen. Es gelang mir nur mäßig.
Von Emely kam keine Reaktion und so langsam machte sich die Befürchtung bei mir breit, dass sie eine Art Meditation oder dergleichen da unten abhielt. Ich kannte mich mit Schildkröten nicht besonders gut aus, aber vielleicht war das ja normal?

Sicherheitshalber wollte ich mich vergewissern. »Ist alles okay?«, fragte ich. »Kann ich dir irgendwie … helfen?« Wieder dieses hartnäckige Grinsen auf meinem Gesicht, das sich partout durchsetzen wollte. Gerade, als ich meinen Karton abzustellen versuchte, um meinen Worten – wenn auch widerwillig – Taten folgen zu lassen, rappelte sich Emely auf.
»Nein«, sagte sie unwirsch, zog sich hektisch die Klamotten zurecht, hievte ihren Karton wieder hoch und rannte die letzten Stufen in einem Tempo nach oben, dass ich nur dastehen und blinzeln konnte. Offenbar, so machte es den Anschein, besaß die Schildkröte den Lichtgeschwindigkeitsmodus doch. In peinlichen Situationen funktionierte er hervorragend.
Amüsiert folgte ich ihr und stellte den Karton zu den anderen, die sich inzwischen nicht nur in Alex’ zukünftigem Zimmer, sondern wegen Überfüllung bereits in der gesamten Wohnung stapelten. Solange wir uns im selben Raum aufhielten, drehte mir Emely ausschließlich den Rücken zu, doch im Augenwinkel sah ich, wie sie sich mehrmals das Knie rieb.

Ich trank einen Schluck, verschnaufte noch ein bisschen, und joggte die Treppen wieder hinunter. Unterwegs begegnete mir Ingo, mein Vater, dessen Gesichtsfarbe von einem ähnlich ungesunden Rotton dominiert wurde wie Emelys. Weil er jedoch jede Hilfe ablehnte, setzte ich meinen Weg fort.
Auf der Straße vor meiner Wohnung angekommen, sah ich Alex und meine Mutter Alena vor dem weißen Sprinter stehen. Die gute Nachricht: Das Ding war bis auf wenige letzte Kisten endlich leer. Noch vor ein paar Stunden, als der Lieferwagen bis zum Anschlag gefüllt war, hatte ich mir kaum vorstellen können, dass wir diesen Moment jemals erreichen.

Alex hievte sich auf die Ladefläche, ließ sich auf den Rücken sinken und streckte die Arme neben sich aus. »Haltet mich bitte davon ab, jemals wieder etwas einzukaufen.«
»Das hast du spätestens morgen früh wieder vergessen«, antwortete ich.
»Um es vergessen zu können, muss ich den Tag heute erst mal überleben«, murmelte sie. Und dessen bin ich mir noch nicht sicher …«
»Ach, wir haben es doch fast geschafft«, sagte Alena, ließ den Blick durch den Sprinter schweifen und lehnte sich neben Alex an die Ladefläche. »Die paar Kartons bekommen wir auch noch nach oben und dann machen wir es uns gemütlich. Immerhin hat uns die Plackerei alle zusammengeführt, das ist doch ein schöner Nebeneffekt.«
Ja. Ein Traum …
»Was guckst du denn so finster, Elyas? Findest du es nicht schön?«
Ich liebte meine Mutter, aber sie war einfach eine Spur zu aufmerksam. Ich räusperte mich. »Doch, natürlich, ich freue mich.«
»Wusste ich’s doch.« Sie zwinkerte mir zu. »Es ist doch bestimmt auch toll für dich, Emely wieder zu sehen, oder nicht? So lange, wie das letzte Mal schon zurückliegt. Wie lange eigentlich genau?«
Sieben Jahre.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich schon eine ganze Weile«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu uns, als hätte sie gedanklich längst vergangene Zeiten betreten.
Wahrscheinlich wäre sie an diesem Ort auch noch länger verweilt, hätte Alex nicht wie so oft den Weg des Tratschens gewählt. »Elyas hat sie gar nicht mehr erkannt, der Idiot.«

Ich wusste nicht, ob ich Alex’ zu stark ausgeprägte Redseligkeit verteufeln oder mich an Emelys echauffierten Gesichtsausdruck von vorhin erinnern sollte, als ich so tat, ich würde nicht wissen, wer sie war. Das war die perfekte Antwort auf ihren arroganten Blick gewesen. Selbst schuld.
Alena war von der einen Sekunde auf die andere wieder im Hier und Jetzt. »Im Ernst?«, fragte sie. » Du hast sie nicht erkannt?« Meine Mutter liebte Emely. Genau wie mein Vater. Als jahrelange beste Freundin von Alex hat sie sich erfolgreich zu Everybody’s Darling in unserer Familie gemacht. Ich fand das schon immer zum Kotzen.

»Ach, Alex übertreibt.« Ich versuchte das Thema abzuwürgen und zog mein Handy aus der Tasche. »Ich weiß ja nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich stehe kurz vor dem Verhungern.« Die Nummer des nahegelegenen Pizzaservices eintippend, sah ich meine Mutter und Alex fragend an. »Wer möchte alles Pizza?«
Genauso gut hätte ich einem verdurstenden in der Wüste Wasser anbieten können und ich kam mit dem Notieren fast nicht hinterher.
»Und welche Pizza für Papa?«, fragte ich.
»Für den nimmst du am besten Schinken«, sagte Alena. »Und Emely isst immer Margarita, oder Alex?«
»Ja, Tomaten und Käse und sie ist glücklich.«
Als ich dem Pizzeria-Inhaber am anderen Ende der Leitung die Bestellung durchgab, war ich kurz gewillt, die Margarita-Pizza extra, extra, extra, extra scharf zu bestellen. Ich riss mich allerdings zusammen und begnügte mich mit der Vorstellung, ich hätte es doch getan. Jede Konversation außer »Hallo« und »Tschüss« vermeiden und ihr aus dem Weg gehen, rief ich mir ins Gedächtnis. Genau.

Zweimal musste ich den langen Weg nach oben noch mal hinter mich bringen, dann hatten wir es endlich geschafft. Alle Kartons waren in der Wohnung. Alena, Ingo und Alex standen in der Küche, Emely ließ sich rücklings auf das Sofa fallen. Schwitzend und nach Luft ringend schloss ich die Wohnungstür hinter mir, stellte die letzte Kiste ab und lehnte mich gegen die Wand neben dem Fernseher. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal derart entkräftet und fertig war. »So viele Klamotten kann ein einzelner Mensch doch gar nicht besitzen«, stöhnte ich und strich mir die verschwitzten Haare aus der Stirn. Mein Blick fiel auf Emely, die gegenüber von mir auf dem Sofa lag, und vermutlich die Einzige war, die mich gehört hatte. Sie erwiderte den Blick. Ihre Haut glänzte feucht, ihre Wangen waren gerötet, und ihre Hände lagen auf dem Bauch. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen war erst nachdenklich, wechselte dann aber mehr und mehr in das Fuchsteufelswilde-Miezekatzen-Finster wie vorhin im Treppenhaus. Wüsste ich es nicht besser, könnte man fast meinen, ich wäre derjenige, der ihr damals das Herz gebrochen hatte. Dabei war es umgekehrt gewesen. Sie war es, die gleichzeitig mit zwei Typen anbandelte, und sich letztlich für den anderen entschied.
Miststück.

Dabei war sie gar nichts Besonderes. Ein stinknormales Mädchen von nebenan. Oder vielleicht sogar eins von fünf Häusern weiter. Warum hatte ich sie damals auf einen Sockel gehoben? Es war mir ein Rätsel. Sie hatte sich die meiste Zeit in Bücher verkrochen, kaum den Mund aufbekommen und eher wie Alex’ Schatten gewirkt als eine eigenständige Person. Und optisch? Mit ihrem spitzen Kinn, den dunklen mandelförmigen Augen und den kirschroten Lippen war sie vielleicht nicht unbedingt hässlich, aber alles in allem nicht herausragender als gewöhnlich. Neben einer sexy Frau wie Marion verblasste sie wie aufsteigender Rauch. Mit jemandem wie ihr konnte sie nicht mithalten, nicht in zehntausend Jahren, und im Bett war sie wahrscheinlich prüder als der Papst. Auf einen Penis reagierte Emely vermutlich mit den Worten: »Ne, igitt. So was fass ich nicht an.« Sie hatte ja keine Ahnung, was ihr dadurch alles entging. Aber das sollte nicht mein Problem sein.

Emely war diejenige, die unseren Blickkontakt abbrach und mich wieder ignorierte. Ich tat es ihr gleich und schüttelte sie aus meinem Kopf. Wenige Minuten später klingelte es an der Tür und die bestellten Pizzen wurden geliefert.

Neben den Pizzen kamen im weiteren Verlauf des Abends bedauerlicherweise noch andere Sachen auf den Tisch. Zum Beispiel mein Regenwurm. So hatte Alex nämlich mal als Kind meinen Penis genannt, mit dem sie mich nicht ins Planschbecken lassen wollte. Leider hatte Emely diese Anekdote aus unserer teilweise gemeinsamen Kindheit nicht vergessen und mich mit ihr wunderbar vor meinen Eltern in Verlegenheit gebracht. Punkt für dich, Schildkröte.

Aber auch mein Medizinstudium wurde zur Sprache gebracht, was ein noch viel, viel leidigeres Thema als der Regenwurm war – um genau zu sein, das momentan leidigste Thema in meinem Leben. Ich hasste es, darüber zu sprechen. Ich wusste selbst nicht, wie es weitergehen sollte. Und mein Vater wäre sicher der letzte, der Verständnis für meine Zweifel aufbringen könnte. Nach der Familie war die Medizin sein zweiter Lebensinhalt. Er war so glücklich, als ich mich entschieden hatte, in seine Fußstapfen zu treten, und er wäre bitter enttäuscht, wenn er wüsste, dass ich in Erwägung zog, das Studium abzubrechen. Glücklicherweise konnte ich das Thema aber relativ schnell abwenden, nicht zuletzt mit der Hilfe meiner Mutter, die meinem Vater sanft aber entschlossen die Hand auf den Arm legte und ihm signalisierte, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch wäre. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass mir eine größere Diskussion um meine letzte verhauene Prüfung erspart blieb.

Ansonsten verlief der Abend unerwartet nett. Ich erfuhr ein paar Details aus Emelys Leben, die ich nicht zwangsläufig gebraucht hätte, aber es tat der Gemütlichkeit keinen Abbruch. Ich freute mich, dass ich meine Schwester wieder täglich um mich haben würde und dass meine Eltern zu Besuch waren. Berlin lag von ihrem Wohnort Neustadt einhundert Kilometer entfernt; ich versuchte zwar, sie so oft es ging dort aufzusuchen, aber meistens bestand der Zyklus, in dem ich Zeit dafür fand, aus mehreren Wochen. Viel zu selten.

Deshalb blieben wir bis in den späten Abend sitzen und tranken noch das eine oder andere Glas Wein zusammen, obwohl wir alle von dem Umzug hundemüde waren. Emely war die erste, die sich verabschiedete, weil sie sonst, wie sie sagte, den letzten Bus verpasst hätte. Ein bisschen fühlte ich mich erleichtert, als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Erst dann konnte ich mich richtig entspannen.
Als irgendwann die Müdigkeit über uns siegte, zogen wir uns in die Schlafzimmer zurück. Meine Eltern in das von Alex, weil die Heimreise zu weit gewesen wäre. Und mein kleines Schwesterchen durfte in dieser Nacht ausnahmsweise mit in meinem Bett schlafen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie weder redete noch schnarchte.

Ich war mir sicher, dass sie sich an nichts von beidem halten würde, doch ich sollte mich täuschen. Kein stundenlanger Monolog darüber, wie aufgeregt sie jetzt wäre, in Berlin zu wohnen, keine Schimpftirade über ihren Exfreund, auf den sie immer noch wütend war, und auch kein anderes Geplapper – sie legte sich hin, machte die Augen zu, und war im nächsten Moment bereits eingeschlafen. Damit hatte sie exakt das getan, was ich eigentlich auch tun wollte. Genau in derselben Reihenfolge und Geschwindigkeit. Nur irgendwie klappte das nicht.

So erschöpft wie ich mich fühlte, dachte ich, ich würde innerhalb von Sekunden in das Land der Träume driften. Stattdessen blickte ich in die Dunkelheit, wälzte mich lange im Bett umher und konnte die Schwelle vom wachen Bewusstsein in das schlafende nicht übertreten. Wirre Gedanke, Bilder, gesprochene Worte … Es war, als hätte mein Kopf bereits begonnen, den heutigen Tag zu verarbeiten, nur vergessen, dabei auf den Traummodus umzuschalten. Das nervte. Und noch mehr nervte mich, dass ich begann, mein eigenes Verhalten zu reflektieren und zu der Schlussfolgerung kam, dass ich mich kindisch benommen hatte. Ganz besonders in dem Moment, als ich das Bett zusammenschraubte und Alex und Emely plötzlich hinter mir standen. Nachdem ich mich von dem ersten Schreck erholt und Emelys arroganter Blick mich wachgerüttelt hatte, war ich vom Boden aufgestanden und auf die beiden zugelaufen.

»Alex«, raunte ich mit dem Blick auf Emely, die zwar körperlich kleiner als ich war, mich aber dennoch immer noch von schier meilenweit oben herab ansah, als würde sie mich um das Zehnfache überragen. »Willst du mir deine kleine Freundin denn gar nicht vorstellen?«, fragte ich.
Das hatte gesessen. Die Hochnäsigkeit fiel Emely wie ein Schwall eiskaltes Wasser aus dem Gesicht und ihr Mund stand einen Spalt breit offen. Was hatte sie denn erwartet? Dass ich vor Jahren einmal in sie verliebt war und sie für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen konnte? Wenn sie sich da mal nicht überschätzte. Natürlich erinnerte ich mich an sie, aber garantiert nicht deshalb, weil ich sie nicht vergessen konnte. Ich war lediglich gut darin, mir Gesichter zu merken. Das war alles.
»Das ist Emely, du Idiot«, entgegnete Alex mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Emely …?«, wiederholte ich, darauf bedacht, die Stirn bis aufs Äußerste zu runzeln, als müsste ich all meine Gehirnwindungen durchforsten, um diesen Namen irgendjemandem zuordnen zu können.
»Genau.
Emely«, mischte sich das arrogante Fräulein nun selbst ein. Ihre Betonung klang zu künstlich, als dass die Freundlichkeit darin glaubhaft war, und offenbarte stattdessen im Unterton eine ganze Batterie von spitzen und scharf geschliffenen Messern. »Die mit den kleinen Brüsten«, half sie mir auf die Sprünge.
Nun konnte ich das Schmunzeln nicht mehr zurückhalten. Sie gab mir allen Ernstes diese Vorlage? Das war der beste Beweis, dass Frauen nicht mit Messern umgehen konnten. Am Ende taten sie sich nur selbst damit weh.
»Ach,
die Emely«, sagte ich amüsiert, ließ den Blick über ihren Oberkörper gleiten und blieb an besagter Stelle hängen. »Jetzt, wo du’s sagst …«
Das hatte doppelt gesessen.

Ich rieb mir das Gesicht. War der Spruch mit ihren kleinen Brüsten wirklich nötig gewesen?
Damals, als sie mich abserviert hatte, war ich gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen, noch ein Kind, ein verletztes noch dazu. Mir fehlte es an Reife, ihr nach der Kränkung sachlich gegenüberzutreten. Aber heute? Heute war ich ein vierundzwanzigjähriger Mann. Und ja, sie hatte mich mit Arroganz behandelt und mir die Vorlage mit den kleinen Brüsten quasi auf dem Silbertablett serviert, aber das sollte ich nicht als Entschuldigung für mein eigenes Benehmen heranziehen. Ihr Verhalten war unbegründet und besaß nicht den Hauch einer Berechtigung, aber was kümmerte es mich? Sollte sie mich doch so arrogant ansehen, wie sie wollte. Was hatte mich das zu interessieren? Gar nichts. Eigentlich konnte es mir vollkommen egal sein. Ich war wahrlich mehr als zufrieden mit meinem Leben, fühlte mich ausgeglichen und wenn man von den alltäglichen Sorgen absah, würde ich mich sogar als glücklich bezeichnen. Daran konnte eine Emely nichts ändern. Wie sollte sie auch? Was zwischen uns vorgefallen war, lag sieben Jahre in der Vergangenheit zurück. Es war längst Gras darüber gewachsen und wir beide inzwischen erwachsen geworden, und genauso sollten wir uns auch verhalten. Heute war bestimmt nicht das letzte Mal, dass ich ihr über den Weg gelaufen war, und auch wenn ich zukünftig versuchen würde, die Begegnungen auf ein Minimum zu reduzieren, so ließen sie sich doch nicht gänzlich verhindern. Das schmeckte mir zwar nicht, aber es war nun mal nicht zu ändern, und es galt, das Beste daraus zu machen. Wir mussten uns nicht mögen oder gar Gespräche miteinander führen, lediglich nebeneinander und ohne größere Berührungspunkte existieren.
Das klang einfach, und das war es auch.

Ich dehnte ein bisschen meine Schulterblätter, die von dem Kistenschleppen in Mitleidenschaft gezogen worden waren, brachte mein Kopfkissen in Form, ließ mich wieder darauf sinken und schloss die Augen. Es dauerte nur wenige Minuten, ehe ich einschlief. Mein letzter Gedanke war, dass ich mich die nächsten Tage bei Marion meldete.

 

© Carina Bartsch

Ich hoffe, euch hat mein kleines Weihnachtsgeschenk gefallen. Lasst es mich wissen :‘)
Vielen Dank an Paulina, Irma und André fürs Gegenlesen!

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